Ruanda als Vorbild Experte fordert "mindestens vier Drittstaaten bis 2028"
19.06.2024, 16:59 Uhr Artikel anhören
Hätte es 2023 für die Routen nach Spanien und Italien Abkommen wie das von 2016 mit der Türkei gegeben, dann wären deutlich weniger Migranten nach Europa gekommen, sagt Gerald Knaus. "Und die Zahl der Toten wäre nicht 3900, sondern 140 gewesen."
(Foto: picture alliance/dpa)
Tausende Menschen sterben jedes Jahr beim Versuch, das Mittelmeer von Afrika nach Europa zu überqueren. Um dieses Sterben zu stoppen und die irreguläre Migration zu beenden, fordert Gerald Knaus Abkommen mit sicheren Drittstaaten.
Der Migrationsexperte Gerald Knaus hat sich für das Modell der sicheren Drittstaaten ausgesprochen, das an diesem Donnerstag bei der Konferenz der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Olaf Scholz diskutiert werden soll. "Sichere Drittstaaten sind der wichtigste Schlüssel für eine humane Kontrolle lebensgefährlicher Außengrenzen", sagt Knaus ntv.de. "Sichere Drittstaaten können Tausende Leben retten, indem sie dazu beitragen, die irreguläre Migration drastisch zu reduzieren."
Knaus ist Chef der Denkfabrik European Stability Initiative. In einer Stellungnahme, die ntv.de vorliegt, nennt er als Beispiel für einen sicheren Drittstaat Ruanda - allerdings nicht das Abkommen, das Großbritannien mit dem afrikanischen Land abgeschlossen hat. Dieser Asylpakt ist zwar bereits in Kraft, hat aber bislang zu keiner Überstellung eines Flüchtlings nach Ruanda geführt.
Vielmehr verweist Knaus auf eine Zusammenarbeit zwischen dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR und der ruandischen Regierung: Diese habe seit 2019 mit dem UNHCR Asylsuchende aus Libyen nach Ruanda gebracht.
"Dann kommt ihr nach Ruanda, nicht nach Europa"
Die Asylverfahren in Ruanda führt das UNHCR durch. "Nehmen wir nun an, Ruanda würde sich bereit erklären, mit Unterstützung westlicher Partner mehr Asylsuchende direkt aus Libyens Lagern aufzunehmen", schreibt Knaus in seinem Papier. "Ruanda bietet dazu auch an, jene aufzunehmen, die ab einem Stichtag von Libyen aus mit Booten irregulär in Richtung EU aufbrechen und von europäischen Schiffen gerettet und aufgegriffen werden." Das Ziel dabei wäre, zu verhindern, dass Menschen in Libyen in unsichere Boote steigen, um nach Europa zu fahren. Migranten mit echtem Schutzbedarf würden nach Europa gebracht, die anderen nicht. "So ließen sich mehrere humanitäre Ziele erreichen", so Knaus: "Die schrecklichen Lager in Libyen werden schnell leerer. Es gibt legale und geordnete Wege aus Libyen über Ruanda nach Europa für diejenigen, die Schutz brauchen. Gleichzeitig ist das Signal an andere: Macht euch nach dem Stichtag nicht mehr auf den Weg nach Libyen. Wenn ihr dann von dort in Boote steigt, kommt ihr nach Ruanda und nicht nach Europa."
Ruanda könnte im Gegenzug mit "einigen Hundert Millionen Euro Finanzhilfe" rechnen. Knaus geht es nach eigenem Bekunden nicht in erster Linie darum, die Zahl der Migranten in Europa zu senken. Stattdessen betont er, es gehe "um nicht weniger, als Tausende Leben im Jahr zu retten". Auf den Migrationsexperten geht auch das EU-Türkei-Abkommen von 2016 zurück, mit dem die Europäische Union die Zahl der Migranten senken konnte, die über die Türkei in die EU kamen.
Das Abkommen reduzierte zugleich die Zahl der Toten in der Ägäis drastisch: In den ersten drei Monaten des Jahres 2016 kamen dort 366 Menschen ums Leben. Ein Jahr später waren es im selben Zeitraum 13, wie Knaus in seiner Stellungnahme schreibt. "Hätte es 2023 für die Migrationsrouten nach Spanien und Italien Abkommen gegeben mit einer der EU-Türkei-Erklärung ähnlichen Wirkung, dann wäre die Zahl der irregulär in diese beiden Länder Kommenden nicht 216.000, sondern 6700 gewesen", rechnet Knaus vor. "Und die Zahl der Toten wäre nicht 3900, sondern 140 gewesen."
Von Deutschland fordert Knaus, mit einer Gruppe interessierter EU-Staaten bis 2028 "mindestens vier" Drittstaaten-Abkommen zu schließen und umzusetzen. Er warnt zugleich vor zu hohen Erwartungen: Es könne nicht darum gehen, Hunderttausende Migranten in sichere Drittstaaten zu bringen. Er hält es auch nicht für zielführend, Menschen aus Deutschland direkt in Drittstaaten zu bringen. Vielmehr sei der Sinn solcher Abkommen, die irreguläre Migration in die EU zu reduzieren. Flüchtlinge solle Deutschland weiterhin aufnehmen - allerdings über offizielle Aufnahmeprogramme, nicht infolge von Überfahrten über das Mittelmeer.
Quelle: ntv.de, hvo