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Reisners Blick auf die Front "Hinter Pokrowsk können die Russen 150 Kilometer vorrücken"

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Ukrainische Drohnen attackieren ein russisches Munitionslager.

Ukrainische Drohnen attackieren ein russisches Munitionslager.

(Foto: IMAGO/Newscom / EyePress)

Ein Ukraine-Deal von Trump könnte die Frontlinie dort einfrieren, wo die Russen gerade stehen. Grund für Putin, seine Truppen mit aller Gewalt nach vorn zu schieben. Wenn die dritte Verteidigungslinie bei Pokrowsk fällt, haben die Russen 150 Kilometer freies Gelände vor sich, warnt Oberst Markus Reisner.

ntv.de: Herr Reisner, Donald Trump ist noch keine Woche zum US-Präsidenten gewählt, da macht schon die geleakte Version eines Ukraine-Deals international die Runde. Muss man den bereits ernst nehmen?

Markus Reisner: Der Plan, der aus dem Umfeld von Trump von einem Berater namens Bryan Lanza lanciert wurde, soll eine von mehreren Optionen darstellen. Zunächst mal soll demnach die Frontlinie eingefroren werden und dann sieht der Plan eine 1200 Kilometer lange Pufferzone entlang des Frontgebiets vor, bis in den Raum östlich von Kiew. Entlang der Linie sollten dann europäische Truppen stationiert werden, um die Pufferzone abzusichern. Dazu würden die USA Waffen liefern. Als Gegenleistung würde die Ukraine einwilligen, ihre Ambitionen auf einen NATO-Beitritt für 20 Jahre aufzuschieben.

Waffen aus den USA - das klingt ja erstmal so, als wollte Trump die Ukraine nicht vor den Bus werfen. Das wären aber keine Sicherheitsgarantien, also nicht langfristig angelegt?

Jetzt dort ein paar US-Waffen hinzustellen, das hilft im Moment zur Abschreckung, ist aber zu wenig. Wie sieht die Anschlussversorgung aus, wenn die Waffen verbraucht sind? Das ist der Knackpunkt. Eine Sicherheitsgarantie bedeutet im Kern vor allem, einen Staat langfristig mit allem zu unterstützen, was notwendig ist. Darum haben Schweden und Finnland sich nach Russlands Invasion in die Ukraine zum NATO-Beitritt entschieden. Sie wollten zum Club gehören, damit sie nachhaltig und garantiert abgesichert sind.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

(Foto: privat)

Ein NATO-Beitritt scheint für die Ukraine unter Trump wohl außer Reichweite?

Derzeit ja, daraus folgt die Frage: Welche europäischen Länder sind bereit, garantiert Munition, Ausrüstung und Truppen zu schicken, wenn die Russen - als Beispiel - 2034 erneut einmarschieren? Die kommenden Jahre wären dann nur eine lange Pause zwischen zwei Waffengängen. Das erinnert an die 1920er und 1930er Jahre. So betrachten Historiker inzwischen auch die beiden Weltkriege I und II: als einen großen Krieg, der nur unterbrochen war von einer kurzen Phase dazwischen.

Der Trump-Deal würde die Pufferzone exakt entlang der Linie ziehen, die Putins Truppen bis dahin erreicht haben. Das heißt, jeden Meter Ukraine, den Putin vorher noch erobert, kann er behalten. Das müsste Russland enorm motivieren, ohne Rücksicht auf Verluste vorzumarschieren. Aber ist da überhaupt noch eine Steigerung möglich?

Sie werden versuchen, das Maximale herauszuholen. Nach meiner Bewertung wäre das die Inbesitznahme aller Oblaste, die Russland bereits als sein Territorium betrachtet: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Bei Saporischschja und Cherson wird das dennoch schwierig werden, denn Teile der Provinzen liegen auf der anderen Seite des Dnjepr. Um jenseits des Flusses Raum in Besitz zu nehmen, müsste man mit einer amphibischen Operation auf das andere Ufer übertreten. Das wäre eine zu massive Offensive, um sie jetzt noch zu schaffen. Bei Luhansk und Donezk sehe ich durchaus die Möglichkeit, den ganzen Oblast zu besetzen.

Hängt im Fall von Donezk nach wie vor viel an der Frage, ob die Russen es schaffen, Pokrowsk einzunehmen?

Pokrowsk ist wichtig als Logistik-Knotenpunkt für die ukrainischen Verteidigungsstellungen. Von dort aus versorgt die Armee viele Truppen an der Donbass-Front. Pokrowsk ist aber außerdem wichtig, weil es die Funktion einer Festung in der dritten Verteidigungslinie hat. Die erste Linie hat die russische Armee durchbrochen. Nun steht sie in der zweiten und marschiert vor auf die dritte. Pokrowsk ist eine Festung auf dieser Linie.

Eine vierte Linie hat die Ukraine nicht. Was bedeutet das, falls die Russen Pokrowsk einnehmen? Haben sie dann nur noch freies Feld vor sich?

Hinter Pokrowsk gibt es tatsächlich kaum noch Verteidigungsstellungen. Sollten es die Russen schaffen, dort wirklich durchzubrechen, kann es danach sehr schnell gehen. Dann können sie rasch die letzten knapp 150 km Richtung Westen vorrücken bis zum Ufer des Dnjepr. Das Gute ist: Die Russen sind auch sehr geschwächt. Sie haben keine 100.000 Mann in der Hinterhand, die sie jetzt zusätzlich als neue Staffel einsetzen könnten.

Was sie aber haben, sind sehr viele Artilleriegranaten. Die Nordkoreaner liefern nochmal, schon zum zweiten Mal drei Millionen Stück. Wo steht der Westen?

Die westlichen Unterstützer wollten bis Ende 2023 eine Million geliefert haben. Im Sommer 2024 standen wir bei 650.000. Bei der Artillerie ist die Ukraine sehr stark im Nachteil. Sie bräuchte mehr eigene Artillerie-Munition, um die Artillerie-Bereitstellungen der Russen zu bekämpfen. Auch fehlt Flugabwehr an der Front, damit die Russen nicht permanent mit ihren Kampfjets und Gleitbomben ukrainische Stellungen bombardieren.

Wenn es in den nächsten Wochen buchstäblich um jeden Meter Ukraine gehen wird, bis es zum Waffenstillstand kommt: Was können die Unterstützerstaaten jetzt schnell tun, um zu helfen? Sehen Sie Initiativen?

Der Westen könnte jetzt durch Munitionslieferungen die Ukraine in die Lage versetzen, dem massiven Druck, der nun noch von russischer Seite zu erwarten ist, standzuhalten. Ob man dazu bereit ist, das ist eine politische Entscheidung. Die Möglichkeiten sind da. Hinter den Kulissen sehe ich aber in einigen Ländern eher ein gewisses Aufatmen. Im Sinne, dass Donald Trump das jetzt regelt, und dann ist der Krieg vorbei. Ich denke, man wird relativ rasch Gespräche in verschiedenen Formaten führen. Eine große Konferenz nach dem Ramstein-Format ist bislang aber nicht angekündigt.

Munition für Artillerie oder Flugabwehr zu produzieren, ist aufwändig und kostet Zeit. Mit Drohnen könnte man der Ukraine schneller helfen. Oder auch mit Geld, denn die Ukraine baut viele ihrer Drohnen selbst, muss aber teure Komponenten auf dem internationalen Markt einkaufen. Würde das auf dem Schlachtfeld bei Pokrowsk helfen, die Stellung zu halten?

Nur wegen ihrer Drohnen schafft es die Ukraine überhaupt noch, die russischen Angriffe abzuwehren. Sie sind billig in der Herstellung und sehr wirksam, vor allem im Nahbereich. Genau dort, wo die Gegner versuchen, in die ukrainischen Stellungen einzudringen, können Drohnen diese Angriffe abwehren.

Wie passiert das genau?

Sie bekämpfen kleinere Stoßtrupps, aber auch ganze Panzer. Bei den russischen Panzern lagert die Munition im Turmkorb. Wenn eine Drohne mit ihrem Ladungsstrahl die schwächste Stelle des Panzers trifft, das ist hinten zwischen Turm und Wanne, dann explodiert das ganze Fahrzeug. Dazu kursieren viele Videos, die diesen Effekt zeigen.

Derzeit sind es vor allem die wirkungsvollen ukrainischen FPV-Drohnen, welche die russischen Angriffsformationen - auch in Pokrowsk - auf Distanz halten. Ob das ausreicht, werden die nächsten Wochen zeigen. Noch mehr als FPV-Drohnen, Artilleriemunition und Panzer braucht die Ukraine im Moment aber Soldaten.

Wie ist die Lage mit Blick darauf?

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Viele der ukrainischen Verbände an der Pokrowsk-Front sind auf 50 Prozent ihrer Sollstärke. Die Schützengräben unterbesetzt, Rotationen nicht mehr möglich. Hier sickern die russischen Soldaten durch die Lücken und melden diese, was wiederum massive Angriffe von mechanisierten Stoßtrupps zur Folge hat. Dies muss die Ukraine stoppen, um nicht zu verlieren. Die Verstärkung der Truppen bei Pokrowsk, die Präsident Selenskyj heute ankündigt, war darum enorm wichtig.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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