Ukrainischer Musiker in Berlin "Manchmal möchte man sich kneifen und aufwachen"
30.04.2022, 09:43 Uhr
Noch immer kommen täglich Hunderte Ukrainer in Berlin an.
(Foto: picture alliance/dpa)
Zwei Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine sind Aleksey und seine Frau Oksana mit ihren drei Kindern nach Berlin geflohen. Die Familie kommt aus der Stadt Dnipro in der Zentralukraine. "Ich vermisse meine Kollegen und Freunde", sagt Aleksey. Aber seine Kinder haben den Krieg nicht ausgehalten - und in der Ukraine kann der Musiker seine Familie nicht ernähren.
ntv.de: Warum haben Sie sich entschieden, nach Deutschland zu kommen?
Da gab es verschiedene Gründe. In Deutschland habe ich als Musiker mehr Möglichkeiten für mich gesehen als in Polen. Ich bin Saxofonist und arbeite meist abends in Bars und Restaurants, manchmal wurde ich auch in die Philharmonie von Dnipro eingeladen. Ohne den Krieg wäre ich nie auf die Idee gekommen, irgendwo anders hinzugehen, aber durch die Kämpfe wurde es für Musiker unmöglich, den Lebensunterhalt zu verdienen.

"Es gibt so viele Menschen in Berlin, die bereit sind zu helfen, dass es einen zu Tränen rührt", sagt Aleksey.
(Foto: Maryna Bratchyk)
Wollen Sie in Deutschland bleiben oder wieder nach Hause gehen, wenn der Krieg vorbei ist?
Die Ukrainer sind ein besonderes Volk, sie sind eine besonders freundliche Nation. Wer schon einmal da war, wird verstehen, was ich meine. Ich vermisse meine Kollegen und Freunde, und meiner Frau geht es ebenso. Aber ich bin sehbehindert, in der Ukraine kann ich meine Familie derzeit nicht ernähren. Wenn die Leute einen friedlichen Himmel über dem Kopf haben, etwas zu essen und zu trinken, dann braucht man Musiker. Im Krieg ist das nicht so.
Fühlen Sie sich schuldig, dass Sie die Ukraine verlassen haben?
Nein, ich habe absolut keine Gefühle des Verrats. Erstens bin ich nicht wehrfähig und zweitens habe ich auch eine Verantwortung als Vater. In Dnipro gab es vier- bis fünfmal am Tag Luftalarm. Wenn die Sirenen heulten, mussten wir die Wohnung verlassen und in den Luftschutzbunker rennen. Meine zweijährige Tochter wurde immer hysterisch, wenn wir sie angezogen und in den Keller geschleppt haben. Sie hat nicht verstanden, was das soll. Irgendwann haben wir es nicht mehr ausgehalten und sind weggefahren. Wir sind dann mit dem Zug von Dnipro nach Lwiw, mit dem Bus weiter nach Polen und von dort mit dem Zug nach Berlin.
Wie ist es Ihnen in Berlin ergangen?
Wir hätten schon den Weg nach Berlin ohne Hilfe nicht geschafft. Wir haben Lebensmittel bekommen, Windeln, Spielzeug für die Kinder, auch Kleidung, denn jetzt ist es wärmer geworden und wir hatten nur Sachen für winterlichere Temperaturen dabei. In Berlin hat man uns ein Hotelzimmer zur Verfügung gestellt und finanzielle Unterstützung. Diese Hilfe ist wirklich sehr berührend.
Warum sind Sie in Berlin geblieben?
Einmal, weil wir Musiker sind - meine Frau unterrichtet Gesang. Wir haben hier auch ein paar Bekannte und Kollegen, die schon vor einiger Zeit nach Berlin gezogen sind. Meine Söhne spielen Fußball, meine Frau konnte sie hier gleich in einem Verein anmelden. Und wir dachten, dass wir hier eine gute Schule für sie finden. Im Moment besuchen unsere Kinder noch den Online-Unterricht der ukrainischen Schule - wegen des Krieges findet der Unterricht in der Ukraine gerade digital statt.
Gestern haben wir die Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre erhalten. Die Kinder werden hier zur Schule beziehungsweise in den Kindergarten gehen, wir selbst werden uns eine Arbeit suchen. Morgen melden wir uns für Deutschkurse an.
Deutschland ist berühmt für seine Formulare, wer hat Ihnen beim Ausfüllen geholfen?
Ein Formular für das Sozialamt hat uns ein 77-Jähriger aus der Ukraine ausgefüllt, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt. Es gibt so viele Menschen in Berlin, die bereit sind zu helfen, dass es einen zu Tränen rührt.
Wie sprechen Sie mit Ihren Kindern über den Krieg?
Ich weiß, dass viele Eltern die Dinge anfangs nicht beim Namen genannt haben, aber wir haben ihnen sofort die Wahrheit gesagt. Kinder haben eine klare Vorstellung davon, was passiert. Meine Söhne sind sechs und acht Jahre alt, sie wissen, wer uns angegriffen hat, aber natürlich verstehen sie nicht, warum. Meine Frau liest oft die Nachrichten, und wenn sie dann weint, trösten die Kinder sie. Manchmal möchte man sich einfach kneifen und aufwachen.
Am ersten Kriegstag haben wir die Kinder nicht zur Schule gebracht. Dann haben wir ihnen gezeigt, wie man eine SIM-Karte in das Telefon einlegt und wie man es auflädt, damit wir immer in Kontakt bleiben. Unsere Papiere haben wir schon seit 2014 griffbereit in einer Mappe. Die Instabilität lag in der Luft. Wir wollten nicht daran denken, aber wir waren immer bereit.
Mit Aleksey sprach Maryna Bratchyk
Quelle: ntv.de