Kanzler-Wahl erstmal gescheitert Merz erlebt größtmögliche Erniedrigung und muss bangen


Merz hat mit diesem Ergebnis nicht gerechnet.
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Wie geht es weiter mit Friedrich Merz? Der designierte Bundeskanzler erlebt im ersten Wahlgang eine historische Schmach. Wann erneut abgestimmt wird, ist unklar. Die kommende Bundesregierung startet mächtig angeschlagen ins Amt - wenn überhaupt.
Das hat es in 76 Jahren bundesrepublikanischer Demokratiegeschichte nicht gegeben: Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang zur Wahl des nächsten deutschen Regierungschefs gescheitert. Damit schreibt der CDU-Vorsitzende jetzt schon Geschichte, auch wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit noch Bundeskanzler werden wird. Wann es einen neuen Wahlgang gibt, ist Stunden nach dem Wahlgang noch offen. Erst am frühen Nachmittag wird klar: Es wird noch einmal abgestimmt. Linke und Grüne stimmen einer Änderung der Geschäftsordnung zu.
Mindestens 18 Abgeordnete von SPD, CDU und CSU haben dem 69-jährigen Sauerländer ihre Stimme verweigert. Aus welcher Fraktion die Nein-Sager, Nicht-Abstimmenden oder die eine ungültige Stimme stammen, ist offen. Doch der Fehlstart des neuen Regierungsbündnisses, das sich von der vorherigen Ampelkoalition durch Geschlossenheit und ruhiges Regieren abheben wollte, ist jetzt schon perfekt. Robert Habeck kommentiert die Abstimmung bitterböse: "Die Ampel wird noch als Stabilitätsanker gelten."
Doch nicht nur Merz ist durch den völlig unerwarteten Ausgang der Abstimmung denkbar vorgeführt. Da viele Beobachter die Nein-Sager eher in den Reihen der Sozialdemokraten vermuten als bei der Union, richten sich die Blicke auch auf den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD, Lars Klingbeil. Schließlich war auch die SPD-Spitze bis Dienstagvormittag davon ausgegangen, dass es in den eigenen Reihen Ausreißer geben wird. Nicht nur Merz', auch Klingbeils Autorität ist damit angeknackst. Mehrere SPD-Abgeordnete schließen auf Nachfrage von Journalisten aus, dass Mitglieder der eigenen Fraktion Merz die Gefolgschaft verweigert haben. Aber was sollen sie auch anderes sagen?
Die ausgefeilte Choreografie des Regierungswechsels ist jedenfalls erstmal dahin. Die am Nachmittag geplanten Amtsübergaben, die ersten Auslandsreisen von Merz nach Paris und Warschau: All das findet nun deutlich später am Tag statt, vorausgesetzt der zweite Wahlgang klappt im Sinne von Schwarz-Rot. Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz bleibt ein paar Stunden länger geschäftsführend im Amt, nachdem er am Vorabend beim Großen Zapfenstreich ja eigentlich schon feierlich verabschiedet worden ist. Da hatte Scholz noch die demokratischen Gepflogenheiten der Machtübergabe gelobt, nach denen "sich ein solcher Wechsel so zivilisiert, so kollegial und anständig vollzieht, wie wir das in diesen Tagen hier in Deutschland erleben". Der weihevoll gemeinte Satz klingt einen halben Tag später plötzlich bitter: Nicht einmal der geordnete Regierungswechsel ist in diesen aufgeregten Zeiten noch sicher.
Dabei hatte alles so feierlich begonnen. "Ich freue mich über die fröhliche Stimmung im Hause", begrüßt Bundestagspräsidentin Julia Klöckner Punkt 9.00 Uhr morgens das vollständig besetzte Plenum aus 630 Abgeordneten sowie die prall gefüllte Gäste-Tribüne. Dort haben nicht nur Merz' Ehefrau Charlotte, sondern auch seine beiden Töchter Platz genommen. Ebenfalls anwesend: Merz' langjährige Widersacherin Angela Merkel, die ihm als frühere Bundeskanzlerin die Ehre ihrer Teilnahme erweist. Ihr Nachfolger Scholz verfolgt die Wahl im Plenum. Er ist in der neuen Legislaturperiode weiter einfacher Abgeordneter und nimmt an diesem Tag in der ersten Reihe neben den SPD-Chefs Saskia Esken und Klingbeil Platz.
Merz und viele seiner vorgesehenen Minister erscheinen sichtbar angespannt im Bundestag. Doch das ist der Aufregung geschuldet, keiner bösen Vorahnung. Dass es für Merz knapp werden könnte, sieht am Morgen niemand kommen. Schließlich liegt Schwarz-Rot zwölf Stimmen über dem Durst.
Entsprechend aufgekratzt schnattern die Vertreter von Union, SPD und Grünen miteinander vor dem Podium sowie links davon, wo die Ministerpräsidenten zugegen sind. Auch Merz und Scholz wechseln ein paar Worte. Der scheidende Kanzler wird, nach allem, was man wissen kann, in der geheimen Wahl für Merz stimmen - auch wenn er diesem so lange jegliche Eignung für das Amt abgesprochen hatte.
Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek ist ganz in Schwarz erschienen. Sie hält die Wahl von Merz offenbar eher für einen Trauertag. Das bewahrheitet sich - wenn auch anders als von Reichinnek vermutet - als Klöckner das Abstimmungsergebnis verliest. Merz und Klingbeil zeigen zunächst keine Regung. Alle eilen in die Fraktionssäle und die Spitzen in Merz' Büro, um sich zu beratschlagen. Der Linken-Politiker Bodo Ramelow sagt im Sender Phoenix, er sei "ziemlich sauer auf Herrn Merz und Herrn Klingbeil, dass wir in diese Situation gekommen sind. Sie erinnert mich an Thüringen, sie erinnert mich an die Kemmerich-Wahl und ich habe das Gefühl, dass die AfD dabei ist, das Chaos für sich auszunutzen".
Der heutige Vizepräsident des Bundestags war 2020 bei der Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten überraschend dem FDP-Politiker Thomas Kemmerich unterlegen, der die Stimmen von FDP, CDU und AfD auf sich vereinigen konnte. Es folgte eine historische Krise in dem Bundesland. Dieses Schreckensbild droht nun auf Bundesebene. Als sich die SPD-Fraktion hinter verschlossenen Türen berät, fällt das Wort "Staatskrise". Die Union solidarisiert sich demonstrativ mit Merz und bedenkt ihn mit stehenden Ovationen.
Einzig die AfD übt sich in Triumphposen, während bei den anderen Fraktionen Schock und Ratlosigkeit vorherrschen. AfD-Chef Tino Chrupalla bescheinigt Merz einen "desaströsen Beginn" seiner Kanzlerschaft. Chrupallas Co-Vorsitzende Alice Weidel erklärt auf X, das Abstimmungsergebnis zeige, "auf welch schwachem Fundament die kleine Koalition aus Union und von den Bürgern abgewählter SPD gebaut ist". Wer immer auch aus den schwarz-roten Reihen Merz und Klingbeil eins auswischen wollte: Er oder sie haben solche Jubelgesten der AfD in Kauf genommen, auch wenn die Stimmen-Verweigerer vielleicht selbst vom Ergebnis überrascht wurden.
Über die Gründe dieses Scheiterns lässt sich trefflich spekulieren. Merz hatte schon immer Widersacher in der CDU. Nicht ohne Grund war seine Bewerbung auf den Parteivorsitz zweimal gescheitert. Die ruckartige Kehrtwende bei der Schuldenbremse schmerzte viele Christdemokraten. In den Reihen der SPD hat man Merz nicht vergessen, dass er Ende Januar eine gemeinsame Mehrheit mit der AfD für einen Entschließungsantrag herbeigeführt hat. Auch Klingbeils Machtübernahme innerhalb der SPD ist nicht unumstritten.
Beide, Merz und Klingbeil, müssen das Abstimmungsergebnis als Niederlage empfinden. Und: Die gegenseitigen Schuldzuweisungen, welche Fraktion verantwortlich ist, sorgen für Spannungen im Regierungsbündnis, die so schnell nicht vergessen sein dürften. Merz hat am Morgen ein 10-Liter-Fass mit sauerländischem Bier für sein Kabinett mitgebracht. Ob die Feierlaune nach einem erfolgreichen zweiten Wahlgang wieder da ist? Frust ließe sich mit Bier allerdings auch herunterspülen.
Quelle: ntv.de