Machtkampf in Downing Street 10 Minister fliehen reihenweise aus Johnsons Regierung
07.07.2022, 09:23 Uhr Artikel anhören
Der britische Premier Boris Johnson übersteht ein Misstrauensvotum knapp, doch danach kehrt keine Ruhe ein: Zahlreiche Kabinettsmitglieder stellen sich gegen den Regierungschef, es gibt vier Rücktritte und einen Rauswurf. Um Johnson wird es einsam, der will aber durchziehen.
Der Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson, sein Amt niederzulegen, wächst weiter. Am Morgen trat mit Nordirland-Minister Brandon Lewis bereits das vierte Kabinettsmitglied von seinem Posten zurück. Einen weiteren Minister hatte Johnson entlassen. Lewis, der als ultraloyal zu Johnson galt, hatte sich laut Medienberichten hinter eine Delegation von Kabinettsmitgliedern gestellt, die Johnson am Mittwochabend zum Rücktritt aufgefordert hatten. Der Premier hatte dies abgelehnt.
Wenige Stunden nach Lewis verkündete auch Bildungsministerin Michelle Donelan ihren Rücktritt - nur zwei Tage, nachdem Johnson sie zu einem Mitglied seines Parlaments gemacht hatte. "Gestern habe ich Sie aufgefordert, das Richtige zu tun und zum Wohle unseres Landes und unserer Partei zurückzutreten, denn beides ist wichtiger als eine einzelne Person", schrieb Donelan in einem Brief an Johnson, den sie via Twitter öffentlich gemacht hatte. "Sie haben uns in eine unmögliche Situation gebracht. Ich bin zutiefst betrübt, dass es so weit gekommen ist, aber als jemand, der Integrität über alles andere stellt, habe ich keine andere Wahl."

Sind sine Tage im Amt gezählt? Premier Boris Johnson vor dem Regierungssitz in der Downing Street.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Zuvor waren bereits Rishi Sunak vom Amt des Finanzministers, Sajid Javid vom Posten des Gesundheitsministers und Simon Hart als Minister für Wales abgetreten. Zudem hatten mehr als 40 konservative Abgeordnete ihre Ämter in der Regierung oder Tory-Fraktion niedergelegt. Chefjustiziarin Suella Braverman legte Johnson am Mittwochabend im Live-Fernsehen den Rücktritt nahe und brachte sich selbst als Nachfolgerin ins Spiel.
Unter den Johnson-Kritikern soll unter anderem der erst am Dienstag auf seinen Posten berufene Finanzminister Nadhim Zahawi gewesen sein. Ebenfalls zu der Delegation soll Verkehrsminister Grant Shapps gehört haben. "Ich kann nicht meine persönliche Integrität opfern, um die Dinge zu verteidigen, wie sie jetzt sind", betonte der scheidende Minister Lewis. Das Land und die konservative Partei "verdienen etwas Besseres".
Michael Gove wurde entlassen
Gegen Johnson gestellt haben sollen sich auch die bislang ultraloyale Innenministerin Priti Patel, Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng sowie Bau- und Wohnungsminister Michael Gove. Gove wurde am Mittwochabend entlassen. Erwartet wird, dass es aus dieser Gruppe noch weitere Entlassungen oder Rücktritte geben dürfte.
Johnson selbst scheint trotz der immensen Absetzbewegung seiner Regierungsmitglieder weiterhin nicht gewillt, sein Amt abzugeben. "Der Premierminister ist in einer optimistischen Stimmung und wird weiterkämpfen", sagte Johnsons parlamentarischer Assistent James Duddridge dem Sender Sky News am Mittwochabend. Johnson habe bei der vergangenen Parlamentswahl das Mandat von 14 Millionen Wählern bekommen und "so viel zu tun für das Land".
Für Johnson, der schon etliche Krisen ausgestanden und seine Macht stets behielt, könnte spätestens am kommenden Dienstag das Ende der Fahnenstange erreicht sein. Bis dahin will ein einflussreiches Komitee, das die Regeln für eine Abwahl des Tory-Parteichefs festlegt, den Weg für ein zweites Misstrauensvotum freimachen. Johnson hatte erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden. Den bisherigen Regeln der Tory-Partei zufolge darf für die Dauer von zwölf Monaten nach der Abstimmung kein neuer Versuch unternommen werden, den Vorsitzenden zu stürzen.
Neues Misstrauensvotum am Dienstag
Durch eine Regeländerung wäre aber bereits in der kommenden Woche ein neues Misstrauensvotum möglich. Es gilt als wahrscheinlich, dass Johnson dieses Mal verlieren dürfte. "Johnsons Schwierigkeit besteht darin, dass nicht die Opposition zu dem Schluss gekommen ist, dass er nicht mehr für das Amt des Premierministers geeignet ist, sondern eine Mehrheit in seiner eigenen Partei", kommentierte die britische Tageszeitung "The Telegraph".
"Er befindet sich in der gleichen Lage wie Theresa May, die ebenfalls eine Reihe von Rücktritten (...) und eine Vertrauensabstimmung überstand, nur um dann abgesetzt zu werden, als sich herausstellte, dass sie den Rückhalt der meisten ihrer Abgeordneten verloren hatte. Angesichts genau dieser Umstände ist es schwer vorstellbar, wie Johnson jetzt überleben kann." Oppositionsführer Keir Starmer warf dem Premierminister vor, er liefere ein "erbärmliches Schauspiel" ab. Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei (SNP), Ian Blackford, forderte eine Neuwahl.
Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Zuvor war herausgekommen, dass Johnson von den Anschuldigungen gegen Pincher wusste, bevor er ihn in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten, später hatte Johnson dann doch einräumen müssen, davon gewusst zu haben - und versicherte, er habe diese Tatsache "vergessen".
Quelle: ntv.de, ter/dpa