Selenskyjs Zwischenbilanz Nur Strategie oder schon der alte Filz?
01.06.2019, 09:06 Uhr
Wolodymyr Selenskyj muss sich beweisen.
(Foto: imago images / photothek)
Seit dem 20. Mai ist Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj ukrainischer Präsident. Er glänzt mit lockeren Auftritten. Seine Personalentscheidungen jedoch lassen erste Zweifel an seiner Integrität keimen.
Wenige Tage nach seiner spektakulären Amtseinführung kommt Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj, im April mit 73 Prozent zum sechsten Präsidenten der Ukraine gewählt, plötzlich wieder zur Aufzeichnung einer der Comedy-Shows, die er noch vor kurzem selbst moderierte. "Liga des Lachens" heißt die Sendung, in der Teams aus verschiedenen Ecken des Landes herausfinden, wer denn am Ende witziger ist. Während des Einstiegssongs kommt der 41-Jährige auf die Bühne, informell gekleidet mit blauem Jeanshemd. "Guten Abend. Mehr habe ich nicht zu sagen", begrüßt er das Publikum, bevor er das Mikro an den neuen Moderator und zugleich seinen Jugendfreund abgibt. Dann nimmt er neben seiner Frau Olena im Saal Platz.
Zumindest im Auftreten unterscheidet sich Selenskyj deutlich von allen seinen Vorgängern. Die inoffizielle Kleidung ist bei ihm eher Regel als Ausnahme: So hatte er lediglich ein schwarzes Hemd an, als er sich am Donnerstag mit den formal aussehenden Außenministern Deutschlands und Frankreichs getroffen hat. Und auch dass Selenskyj sich zusammen mit Mitgliedern seines Teams an einer Tankstelle beim Döneressen fotografieren lässt, überrascht niemanden mehr. Doch anders als in den Jahren zuvor wird der Ex-Schauspieler nicht nur an seinem Showauftritt, sondern vor allem an seinen Amtshandlungen bewertet werden. Die bisher spektakulärste Aktion war die rechtlich umstrittene Parlamentsauflösung, wegen der die vorgezogene Parlamentswahl am 21. Juli und nicht wie geplant Ende Oktober stattfinden wird. Es ist jedoch nicht die einzige fragwürdige Entscheidung.
Das machtpolitische Kalkül ist klar: Während die Umfragewerte der Partei "Diener des Volkes" von Selenskyj steigen und mittlerweile bei 44 Prozent liegen, ist der neue Präsident im ukrainischen Parlament, dem Werchowna Rada, ohne eigene Fraktion eher schwach aufgestellt. Ohne die Unterstützung des Parlaments kann ein Präsident in dem Einkammersystem kaum effektiv regieren. Selenskyj möchte also gerne den Schwung aus der Präsidentschaftswahl mitnehmen und das bestmögliche Ergebnis für seine Partei holen, bevor seine Umfragewerte wieder nach unten gehen könnten. "Im Idealfall würden wir die Koalition gerne alleine bilden", sagt sogar Olexander Kornyjenko, Wahlstabchef der Partei.
Kindheitsfreund soll Geheimdienstchef werden
Das dürfte kompliziert werden. In der Ukraine werden die Parlamentswahlen nach einem gemischten System ausgetragen: Die Hälfte der Abgeordneten wird über die Partelisten gewählt, die andere Hälfte besteht aus Direktkandidaten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass "Diener des Volkes" die Mehrheit über die Parteilisten holt. Allerdings ist Selenskyj mit seinem Antrag, Direktmandate abzuschaffen, in der aktuellen Werchowna Rada gnadenlos gescheitert - was auch nicht überrascht, weil diese eben zur Hälfte aus Direktkandidaten besteht. Und dass die Partei offenbar große Probleme damit hat, Kandidaten für alle 199 Wahlkreise zu finden, zeigt sich auch daran, dass sich nun jeder über das Internet dafür bewerben kann.
Auch darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Selenskyj und dem alten Parlament angespannt. Es ist etwa nahezu ausgeschlossen, dass die Rada noch über Kandidaturen für die Posten abstimmt, für die der neue Präsident Vorschlagsrecht hat. Dabei geht es unter anderem um den Außen- und den Verteidigungsminister. Ebenfalls darf man gespannt sein, was mit den eingereichten Gesetzentwürfen zur Aufhebung der strafrechtlichen Immunität der Abgeordneten, des Präsidenten und der Richter sowie zur Amtsenthebungprozedur für den Präsidenten passiert - beides gehörte zu den wichtigsten Wahlversprechen Selenskyjs. Bisherige Personalentscheidungen des 41-Jährigen mögen einerseits auf personelle Engpässe in seinem Team hindeuten. Sie sind andererseits aber schlicht problematisch.
Auffällig ist etwa, wie viele Posten mit alten Arbeitskollegen aus seiner Zeit bei der TV-Produktionsfirma Kwartal 95 besetzt werden. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU etwa wird ab nun stellvertretend von seinem Kindheitsfreund Iwan Bakanow geführt, der das Unternehmen mitgegründet hat. Stimmt das Parlament zu, wird Bakanow sogar Chef des Geheimdienstes. Noch problematischer ist aber eine andere Personalie. Der 42-jährige Anwalt Andrij Bohdan wurde zum Chef der Präsidialverwaltung ernannt, einer durchaus einflussreichen Position im unübersichtlichen politischen System der Ukraine. Zuvor war er der persönliche Jurist des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, dem wiederum eine enge Beziehung zu Selenskyj nahegesagt wird.
Keine Strategie für Russland
"Wenn er mich darum bittet, werde ich nicht absagen können", sagte Bohdan früher zu den Spekulationen, Selenskyj könnte ihn zum Chef der Präsidialverwaltung ernennen. Überraschend ist diese Entscheidung also nicht. Dennoch war in Kiew zu hören, Selenskyj könnte sich doch noch anders entscheiden, weil Bohdan als Kolomojskyj-Vertrauter zu vorbelastet sei. Letztlich ist es dennoch zu dieser fragwürdigen Ernennung gekommen. Bohdan soll im Wahlteam von Selenskyj eine große Rolle gespielt haben, die beiden kennen sich aber ohnehin seit Jahren. Immerhin: Ihor Kolomojskyj darf offiziell nicht mehr auf Bohdan als Anwalt zugreifen.
Zu den bemerkenswerten Entscheidungen Selenskyjs gehört auch die Rückgabe der ukrainischen Staatsbürgerschaft an den georgischen Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili, der 2015 von seinem Vorgänger Petro Poroschenko als Reformer in die Ukraine geholt und zum Gouverneur der südukrainischen Region Odessa ernannt wurde. Ende 2016 trat Saakaschwili aber aus dieser Position zurück und warf Poroschenko die Anführung der Korruption im ganzen Land vor. Darauf reagierte dieser 2017 mit dem umstrittenen Entzug der Staatsbürgerschaft. Nun bekommt Saakaschwili nicht nur den Pass zurück, er ist am Mittwoch bereits nach Kiew zurückgekehrt. "Ich unterstütze Selenskyj. Er ist eine große Chance für die Ukraine", sagte er dann Selenskyj. Eine Zusammenarbeit scheint also nicht ausgeschlossen.
Die Beziehungen zu Russland indes sind die wohl größte Herausforderung für Selenskyj. Dort ist bisher keine klare Strategie festzustellen. Der 41-Jährige hat zwar ein konsultatives Referendum zu inhaltlichen Friedensvorschlägen im Donbass-Krieg zur Debatte gestellt. Trotzdem hat Selenskyj die Frage eines Journalisten nach der Möglichkeit der Friedensverhandlungen mit Russland mit einem klaren "Nein" beantwortet. Ob sich seine Position nach internationalen Verhandlungen ändert, ist unklar. Nach dem Treffen mit den beiden Außenministern Frankreichs und Deutschlands folgt am Dienstag nun seine erste Auslandsreise nach Brüssel. Spätestens dann ist der Ex-Komiker in seinem Amt endgültig angekommen.
Quelle: ntv.de