Jung, queer und in Berlin Oleksandr glaubt nicht an baldigen Frieden
20.08.2022, 15:43 Uhr
Oleksandr ist schon vor dem Krieg nach Berlin gezogen.
(Foto: Ronja Velder)
Der 23-jährige Oleksandr lebt in Berlin, er hat die Ukraine schon vor Kriegsbeginn verlassen. Er sammelt Spenden, hilft ukrainischen Flüchtlingen und sorgt sich um seinen Ex-Freund - gleichzeitig hat er Schuldgefühle.
Oleksandr R. kommt aus der Ukraine. Als sein Heimatland im Februar von Russland überfallen wird, muss er nicht fliehen: Er lebt bereits seit November in Berlin.
Der 23-Jährige stammt ursprünglich aus Awdijiwka, einer kleinen Stadt, die zum Bezirk Donezk gehört, die aber außerhalb der 2014 von russischen Hilfstruppen gebildeten "Volksrepublik Donezk" liegt. Als die Ukraine damals angegriffen wird, ist Oleksandr 15 und befindet sich in einem Internat in der Stadt Donezk. Er packt sein Hab und Gut und flüchtet zu seinen Eltern.
Mit 17 Jahren, nach dem Abitur, zieht er nach Kiew und studiert Data Science. Sechs Jahre lang erlebt er Kiew in seiner vollen Pracht. Als junger schwuler Mann entdeckt er das Nachtleben der ukrainischen Hauptstadt und wird Teil der wachsenden LGBTQ+-Community. Ende letzten Jahres beendet er dann seinen Masterstudium und zieht nach Berlin, wo er als Datenanalyst bei einem Spieleentwickler arbeitet.
Angst um den Ex-Freund
In seiner Heimatstadt Awdijiwka ist heute keines seiner Familienmitglieder mehr. Ursprünglich hatte die Stadt 30.000 Einwohner. Seit die Auseinandersetzungen im Februar wieder stärker wurden, haben die meisten Menschen die ostukrainische Stadt verlassen. Heute sind nur noch wenige Tausend Einwohner übrig. Auch Oleksandrs Familie und Freunde sind gegangen.
Als die Angriffe auf die Ukraine starten, muss Oleksandr seine Mutter, die vom Vater getrennt lebt, geradezu überreden, zu ihm nach Deutschland zu kommen. Nach zwei Wochen packt sie ihre Sachen. Sie braucht drei Tage bis zur slowakischen Grenze, wo Oleksandr sie abholt. Jetzt leben sie gemeinsam in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Berlin-Schöneberg. Sein Vater darf das Land nicht verlassen. Er ist unter 60 und gehört daher zu den wehrpflichtigen Personen. Oleksandr macht sich um ihn jedoch nicht große Sorgen: "Er ist schon älter, also liegen die Chancen sehr niedrig, dass die Armee ihn einzieht."
Mehr Angst hat er um seinen Ex-Freund in der Ukraine. "In seinem Alter sind die Chancen am größten, in die Armee gehen zu müssen." Täglich stehen die beiden im Kontakt. "Wir sind beste Freunde", sagt Oleksandr. Von seinen Freundinnen sind nahezu alle geflohen. Seine Freunde müssen im Land bleiben.
Viele schwule und lesbische Soldatinnen und Soldaten kämpfen zurzeit an der Front. Sie verteidigen nicht nur ihr Vaterland, sondern auch ihre Rechte und Freiheiten. Für sie würde es bei einer Einnahme der Ukraine durch russische Truppen besonders gefährlich. In Russland gibt es strenge Gesetze über "homosexuelle Propaganda". Diese Bedrohung für die Rechte queerer Menschen macht Oleksandr besonders große Sorgen.
"Wow, meine Nation ist vereinigt"
Oleksandr glaubt, dass über 90 Prozent der geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer in ihre Heimat zurückkehren werden. "Meine Verwandten und Freunde können es nicht erwarten, zurück in die Ukraine zu kommen. Es ist schwer, in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen, wenn du zu Hause schon alles hast - deine Lieblingsbar, dein Lieblingsclub, dein geliebtes Leben."
Seine Mutter möchte allerdings in Berlin bleiben. "Bei ihr ist das etwas anders, weil ich ja hier lebe." Sie besucht nun einen Deutschkurs. Bald steht bei den beiden ein Umzug in eine größere Wohnung an.
In der Ukraine war Oleksandr seit seinem Wegzug noch einmal - im Februar, kurz vor dem Krieg. Er war überrascht, wie sehr sich die Ukraine in nur drei Monaten verändert hatte. "Normalerweise war Kiew zu einer Hälfte russischsprachig und zur anderen ukrainisch", erinnert er sich. Im Februar hätten dann fast alle in Kiew Ukrainisch gesprochen. Ihm hat nicht nur das gefallen: "Es hat sich komisch angefühlt, dass alle so nett waren. Ich dachte mir damals: Wow, meine Nation ist so vereinigt."
"Alle Gedanken drehen sich um die Ukraine"
Manchmal wird Oleksandr von Schuldgefühlen geplagt. Wenn er auf der Straße nach seiner Herkunft gefragt werde, sei er immer stolz, Ukrainer zu sein. Doch wenn er in Bars oder Clubs ist, fühle er sich oft schuldig. "Ich meine, wir bitten Menschen um Spenden und zur gleichen Zeit bin ich in der Bar mit einem Drink in der Hand." Viele Leute würden das falsch verstehen. Natürlich wüssten die Menschen nicht, wie viel Geld Oleksandr selbst an seine Heimat gespendet hat oder wie er sonst hilft. Er versucht, alle in der Heimat so gut es geht zu unterstützen. Zeitweise beherbergte er eine Familie. Fünf Menschen fanden in seiner kleinen Wohnung Platz. Mittlerweile ist die Familie in eine eigene Wohnung gezogen.
Aber er brauche auch Auszeiten vom Krieg und den Nachrichten. "In den ersten Monaten war es unmöglich, eine gute Zeit zu haben", sagt Oleksandr. "Du bist die ganze Zeit zuhause und alle Gedanken drehen sich um die Ukraine." Es ist schwer für den jungen Ukrainer, an all seine Freunde zu denken, die das Land nicht verlassen dürfen. Sie müssen jetzt teilweise an der Front kämpfen und jeden Tag um ihr Überleben bangen. Er hingegen hatte Glück und ist in Deutschland sicher. Bis heute checkt er die Nachrichten auf Telegram und in den ukrainischen Medien praktisch minütlich. Sobald es einen neuen Angriff gibt, werden Bekannte panisch kontaktiert und nach ihrem Wohlbefinden gefragt. Und das jeden Tag, von morgens bis abends. Aber das könne man nicht immer machen, ohne daran kaputtzugehen. "Es ist unmöglich, dein Leben so fortzuführen, ohne eine Pause von allem zu bekommen."
An ein baldiges Ende des Kriegs glaubt Oleksandr nicht. Schon 2014 seien viele von einem raschen Kriegsende ausgegangen. "Ich und meine Familie haben nicht viel Hoffnung, dass der Krieg bald endet", sagt er. Die einzigen Wege, wie der Krieg zu Ende gehen könne, seien Putins Tod oder ein Erfolg der ukrainischen Armee. Die Ukrainer würden jedenfalls nicht aufhören zu kämpfen. "Bis wir gewinnen, wird es keine Einigung geben", sagt er.
Quelle: ntv.de