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Gott, Geister und geklonte Hunde Potenzieller "Reißt alles nieder"-Präsident verängstigt Argentinien

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Erregt Aufmerksamkeit: Javier Milei. Einer seiner Spitznamen wegen seiner immer gleichen Frisur ist "die Perücke".

Erregt Aufmerksamkeit: Javier Milei. Einer seiner Spitznamen wegen seiner immer gleichen Frisur ist "die Perücke".

(Foto: dpa)

Argentiniens nächster Präsident wird monumentale Aufgaben lösen müssen. Der Staat ist nahezu bankrott, Inflation und Armutsrate sind hoch. Die Vorhaben des libertären Kandidaten Javier Milei wecken Geister der Vergangenheit - im wahrsten Sinne des Wortes.

Argentinien balanciert auf einer Klippe, und der selbsterklärte Retter, der das Land mit Gewalt wieder zurück auf sicheren Boden ziehen will, wirkt wütend. "Könnten wir aufhören mit dem Gemurmel hinter den Kameras?", unterbricht Javier Milei sein Fernsehgespräch mit einem Journalisten. Der libertäre Präsidentschaftskandidat gestikuliert: "Wenn ich einen Fehler mache, vernichten sie mich in der Öffentlichkeit, und niemand wird sagen, dass es wegen des Gemurmels war." Doch der Druck auf Milei ist enorm.

Der Ökonom ist ein Profi, seit Jahren im argentinischen TV präsent. Am Sonntag jedoch tritt er als Kopf der Partei "La Libertad Avanza" ("Die Freiheit schreitet voran") in der entscheidenden Stichwahl gegen den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa an. In Umfragen liegen die beiden so gut wie gleichauf. Viele gehen davon aus, dass Milei einen leichten Vorteil hat. Doch im ersten Wahlgang galt Milei ebenfalls als Favorit - und Massa übertrumpfte den Emporkömmling. Milei ist seit drei Jahren in der Politik, Massa seit drei Jahrzehnten. Der Minister hatte unter anderem Sonderzahlungen an Einkommensschwache veranlasst und vor immensen Preissteigerungen bei einem Sieg Mileis gewarnt. Das wirkte offenbar.

Der 53-jährige Milei, mal in Lederjacke, mal im Anzug, immer mit seiner ikonischen Frisur, war bis 2020 als Wirtschaftsexperte durch die Fernsehstudios gereicht worden; weil er brüllte und schimpfte und die Wut auf "die da oben", die "Scheißlinken", "Marxisten" und die peronistische Regierung vor die Kameras brachte. Er präsentierte auch seine Hunde, trat bei einer Cosplay-Veranstaltung singend in einem selbst entworfenen "General Anarchokapitalist"-Kostüm auf, oder erzählte von seiner Zeit als Tantra-Sex-Lehrer. Inzwischen ist Milei aber viel mehr als ein Schreihals und Quotenbringer, der eigener Aussage zufolge den Staat hasst. In der seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise ist er ist zum politischen Ventil der Unzufriedenheit geworden, insbesondere unter jüngeren Argentiniern.

Staatlich finanzierte Hausaufgabenhilfe in einer einkommensschwachen Gegend.

Staatlich finanzierte Hausaufgabenhilfe in einer einkommensschwachen Gegend.

(Foto: AP)

"Die Kaste hat Angst", mit diesem auf eine Fußballmelodie gesungenen Wahlspruch haben der Pampa-Populist und seine Anhänger es bis kurz vor den Präsidentenpalast, die Casa Rosada gebracht. Die Kaste, das ist laut ihnen die Elite aus Politikern und Unternehmern, und er, der unverbrauchte Außenseiter will sie vertreiben und mit radikalen, magischen Rezepten eine goldene Zukunft ohne Inflation einläuten. Die Geldentwertung ist das wichtigste Thema der Wahlen. Dafür bezeichnet Milei die Landeswährung als "Exkrement", die er mit dem US-Dollar ersetzen will, die Zentralbank will er abschaffen, obwohl niemand nachvollziehbar erklären kann, wie dies funktionieren würde.

Argentinien jongliert mit allem, was es hat, um nicht bankrott zu gehen. Gewinnt Milei, würde das Vertrauen in den Peso aller Voraussicht nach einbrechen und die Inflation explodieren. Schon jetzt steht sie bei über 140 Prozent. Die Zentralbank hat so gut wie keine Devisen, aber auf dem Staatshaushalt lasten der höchste Kredit (in Dollar) in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds sowie dessen Sparvorgaben.

Tierische Berater und Gottes Auftrag

Milei ist nicht nur deshalb höchst umstritten. Manche halten ihn schlicht für verrückt. Laut der unautorisierten Biografie "El Loco" hat Milei harte Zeiten hinter sich. In seiner Kindheit wurde der Präsidentschaftskandidat demnach von seinem Vater regelmäßig windelweich geschlagen, in der Schule war er ein gemobbter Außenseiter - daher stammt auch sein Spitzname "El Loco" -, später betrachtet er seinen Hund Conan als seinen Sohn. Als die englische Dogge im Jahr 2017 stirbt, spricht Milei bald mit Hilfe eines Mediums, ein "anarchokapitalistischer Hexer", mit deren Geist. In einem Interview sagt der Hexer über sich und Milei, beide seien "sehr wichtige Personen des Römischen Reichs" gewesen, und deshalb "sehr an Kämpfe gewöhnt".

Eine Freundin richtet ein Profil des verstorbenen Hundes in den sozialen Medien ein, an das Milei Liebesnachrichten schickt. Der Ökonom lässt Conan in den USA klonen - seine "Enkel" benennt er nach liberalen Wirtschaftswissenschaftlern: Milton (Friedman), Murray (Rothbard), Robert (Lucas) sowie erneut Conan, weil der sich wie sein genetischer Vater verhält. Milei und seine Schwester Karina, die im Hintergrund alle Fäden zieht, lassen sich in Telepathie schulen, um mit toten und lebenden Hunden kommunizieren zu können. Laut dem Autor der Biografie sind die Doggen, die mit ihm im Zentrum der Hauptstadt wohnen, wie ein Schattenkabinett: Jede berät ihn in einem anderen Themenbereich.

Aktueller Wirtschaftsminister und Mileis Kontrahent: Sergio Massa.

Aktueller Wirtschaftsminister und Mileis Kontrahent: Sergio Massa.

(Foto: AP)

Aber noch etwas geschah laut Vertrauten mit Milei nach Conans Tod: Er beginnt, Geister zu sehen. Und mit ihnen zu sprechen. In einer Buchhandlung von Buenos Aires unterhielt er sich demnach mit der (vor mehr als 40 Jahren verstorbenen) libertären Ikone Ayn Rand. Demnach spricht er zudem immer wieder mit (dem vor fast 29 Jahren verstorbenen) Murray Rothbard, ein Anhänger der wirtschaftslibertären österreichischen Schule, wie Milei selbst. Im Jahr 2020, während der Pandemie, besucht ihn angeblich Gott. "Er hat mir gesagt, dass ich einen Auftrag habe", sagte er laut Bekannten über dieses Treffen: Er solle 2023 Präsident werden.

2021 gründet Milei seine Partei, die sich auch mit den Evangelikalen verbündet hat. Auf Wahlkampfveranstaltungen sind Kappen mit der Aufschrift "Die Mächte des Himmels" allgegenwärtig. Zugleich aber sind sie Papst Franziskus gegenüber äußerst kritisch; einem Argentinier, der den Peronisten näher steht. Milei bezeichnet sich selbst als katholisch, nannte den Papst 2020 aber als "Idioten" und "Vertreter des Bösen auf Erden", weil der für Steuern sei. Im aktuellen Wahlkampf sagt er dem US-Moderator Tucker Carlson, der Papst sei Freund von "tötenden Kommunisten" und verstoße gegen die Zehn Gebote, weil er sich für soziale Gerechtigkeit einsetze. Als Milei im August überraschend die Vorwahlen in Argentinien gewinnt, dankt er seinen Hunden, nennt sie "die besten Strategen der Welt".

Enormer Kaufkraftverlust

Für die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas steht bei der Wahl die kurzfristige, aber auch die weitere Zukunft auf dem Spiel. Die kurzfristige, weil Lohnanpassungen der Inflation nicht hinterherkommen. Die Armutsrate liegt bei über 40 Prozent, so hoch wie in der Pandemie. Vor allem die einkommensschwache Bevölkerung leidet unter dem Kaufkraftverlust. Etwa die Hälfte wurde in den vergangenen Jahren wirtschaftlich abgehängt. Sie werden von staatlichen Sozialprogrammen und zahlreichen Subventionen über Wasser gehalten. Wählen sie den Libertären, könnten sie am Ast sägen, an dem sie sich festhalten. Milei ließ im Wahlkampf immer wieder eine Kettensäge aufheulen - symbolisch dafür, wie er gegen die Staatsausgaben vorgehen will.

Eines von Mileis Markenzeichen: Die Kettensäge, hier von einem Anhänger in die Höhe gereckt.

Eines von Mileis Markenzeichen: Die Kettensäge, hier von einem Anhänger in die Höhe gereckt.

(Foto: REUTERS)

Wo der Fall enden würde, kann niemand vorhersehen. Somit steht die mittel- und langfristige Zukunft ebenso auf dem Spiel. Argentinien will ein globaler Energieexporteur werden. Im nördlichen Patagonien liegt eines der größten Schieferöl- und Gasvorkommen der Welt. Das Land hat gigantische Weiten für Windräder, und die nördliche Andenkordillere birgt eines der größten bekannten Lithiumvorkommen, derzeit unverzichtbar für den Wandel des Globalen Nordens zur Elektromobilität. Die Ausbeutung hat schon begonnen. Die Wertschöpfung durch Batteriefertigung kommt im Idealfall dazu. Wie werden zukünftige Regierungen diese Schätze nutzen?

Darüber redet Milei nicht viel. Stattdessen verliert er sich in Hasstiraden, Wirtschaftskleinklein, verklärt die argentinische Vergangenheit und zieht wenig zielführende Vergleiche mit den USA oder Deutschland. Es reicht schon, den Ökonomen John Maynard Keynes mit ihm in Verbindung zu bringen, damit er in Rage gerät: Dann schimpft der Libertäre auf die "Kommunisten" oder nennt das Werk des Wirtschaftswissenschaftlers "inkonsistenten Müll". Als Anhänger der österreichischen Schule, die radikalen Individualismus und Marktautonomie lehrt, sind seine Helden andere. "Der Staat ist der Pädophile im Kindergarten, mit den Kleinen angekettet und in Vaseline gebadet", sagte Milei. Solche verstörenden Vergleiche sind keine Seltenheit.

Seine absolute Abneigung gegen den Staat steht ihm zuweilen im Weg. Die Fernsehdebatte vor der Stichwahl, als fast die Hälfte der Argentinier zusah, geriet für Milei zur medialen Katastrophe. Der Anarchokapitalist wurde von Massa, dem Mitverantwortlichen der Wirtschaftskrise, vor sich hergetrieben: Ob Milei öffentliche Bildung und Gesundheitssystem abschaffen wolle? Arbeiterrechte streichen? Das Rentensystem privatisieren? Die Handelsbeziehungen mit China und Brasilien beenden? Und vor allem: die Subventionen abschaffen, so dass die Preise explodieren?

"Chaos" statt "Ordnung", "Diktatur" statt "Demokratie": Wahlwerbung der regierenden Peronisten (rechts) auf einer Hausfassade in Buenos Aires.

"Chaos" statt "Ordnung", "Diktatur" statt "Demokratie": Wahlwerbung der regierenden Peronisten (rechts) auf einer Hausfassade in Buenos Aires.

(Foto: AP)

Viele dieser Pläne hatte er immer wieder glasklar angekündigt - nur um nach dem Ergebnis des ersten Wahlgangs das Gegenteil zu behaupten. Denn der Libertäre hatte den erhofften Sieg im ersten Wahlgang verpasst und sich danach mit den Bürgerlichen verbündet - deren Kandidatin Patricia Bullrich war nur Dritte geworden -, allen voran mit Ex-Präsident Mauricio Macri. Das bürgerliche Bündnis implodierte deshalb, da es nicht wenige Wähler in ein Dilemma stürzte: Schließlich war es der Superreiche Macri, der die aktuelle Krise im Jahr 2018 mit wirtschaftsliberalen Maßnahmen ausgelöst hatte. Bullrich war Sicherheitsministerin in seiner Regierung. Ein Teil der Politiker und Wähler liefen danach zu Milei über, ein anderer Teil zu Massa.

Wer hat Angst vor wem?

Milei war in der Fernsehdebatte also in der Defensive. Er schlingerte dahin, versuchte sich mit aggressiven Schimpftiraden statt nachvollziehbaren Argumenten zu wehren, offenbarte Wissenslücken, machte inhaltliche und strategische Fehler. Dazu wilde Gesten, wirre Blicke, wütendes Zähnezeigen. Während sich sein Kontrahent öffentlich demontierte, blickte Massa wiederholt mitleidig in die Kameras. Er erahnte wohl schon das nahezu einhellige Urteil der argentinischen Medien, egal aus welcher politischen Richtung: Milei hatte die Debatte verloren.

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Die meisten seiner Wähler sagen jedoch, sie wählen den Libertären wegen dessen Authentizität und aus Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Sie haben auch den Zusammenbruch von Staat und Wirtschaft in den Jahren 2001 und 2002 im Hinterkopf, ausgelöst durch einen an den Dollar gekoppelten Peso, wirtschaftsliberale Maßnahmen und Privatisierungen, Mileis Rezepte. Milliarden Dollar an Privatvermögen wurden vernichtet. Milei ist zudem gegen Abtreibungen und seine Vize verharmlost die Gräueltaten der letzten Militärdiktatur. Massas Wähler hingegen würden sich für ein bekanntes Gesicht entscheiden. Er verspricht, einen gemäßigteren Weg aus der Misere zu kennen, den er mit einer Regierung der nationalen Einheit beschreiten würde.

Und so spaltet die beiden Kandidaten die Wählerschaft. Im Endeffekt werden die Argentinier die Antwort darauf geben, wovor ihre Gesellschaft mehr Angst hat: Der Unberechenbarkeit Mileis und einem gemeinsamen Sprung von der Klippe? Oder vor dem aktuellen Wirtschaftsminister, der mit dem Risiko eines fatalen Fehltritts weiter daran entlang balancieren will?

Quelle: ntv.de

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