Reisners Blick auf die Front "Russland bestimmt, wo Ukraine Kräfte einsetzen muss"
16.10.2023, 20:26 Uhr Artikel anhören
Inzwischen sind die ukrainischen Truppen im Nordosten des Landes in der Defensive.
(Foto: REUTERS)
Statt dass den Ukrainern im Süden des Landes der erhoffte Durchbruch an der Front gelingt, gehen nun die Russen im Nordosten in die Offensive. Warum Kiews Truppen das nicht verhindern konnten, und was es bedeutet, erklärt der Militärexperte Oberst Markus Reisner ntv.de.
Die beiden ukrainischen Vorstöße nördlich von Mariupol und nördlich von Melitopol sind offenbar fast zum Erliegen gekommen. Bei Bachmut können die Truppen derzeit auch kein Gelände mehr gewinnen. Machen die aktuellen Frontnachrichten zu Recht pessimistisch?
Wenn man dann noch hinzufügt, dass den Russen im Süden, bei Werbowe, kürzlich sogar ein Gegenangriff gelungen ist, in dem sie den Ukrainern lokal begrenztes Gelände wieder abnehmen konnten, dann haben wir tatsächlich Grund zur Sorge. Zudem sehen wir jetzt die ersten Bilder von beginnenden Regenfällen, was bedeutet: Die Rasputiza, die Schlammperiode, steht vor der Tür. In Kürze wird sie das Bewegen größerer Verbände unmöglich machen. Zugleich sehen wir auf taktisch operativer Ebene, also in einzelnen Frontabschnitten, den Versuch der Russen, jetzt selbst in die Offensive zu gehen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Wo passiert das?
Sehr intensiv wird im Raum zwischen Kupjansk und Swatowe gekämpft und auch südlich davon um die Stadt Awdijiwka. Hier versuchen die Russen in einer Zangenbewegung, die Stadt einzukesseln. Awdijiwka wird auch "Das Tor nach Donezk" genannt, weil sie seit 2014 zu einer Art Festung ausgebaut wurde, mit Minenfeldern und Panzersperren. Diese Stadt versuchen die Russen in Besitz zu nehmen, erleiden dabei allerdings sehr schwere Verluste.
Im Sommer hieß es vonseiten der westlichen Unterstützer mehrfach, die Ukraine solle ihre Kräfte im Zentralraum für den Vorstoß bündeln. Die Ukrainer haben das nicht getan und darauf verwiesen, dass sie Reserven brauchen, falls die Russen im Nordosten angreifen. Passiert genau das jetzt?
Das hat die Ukraine seinerzeit gemeint, diese aktuellen Vorstöße bei Swatowe und Awdijiwka. Sie versucht nun dagegenzuhalten, und das bis jetzt auch erfolgreich. Die Russen haben es allerdings in den letzten Monaten geschafft, signifikante Kräfte zusammenzuziehen. An ihren Verlusten lässt sich ablesen, wie groß die Verbände sein müssen, dass sie zumindest mehrere Regimenter umfassen. Diese Verbände sind jetzt in der Offensive und versuchen, Meter für Meter vorzurücken.
Abgesehen von diesen Entwicklungen auf dem Schlachtfeld: Sehen Sie auch Veränderungen auf strategischer, also übergeordneter Ebene?
Seit knapp drei Wochen attackieren die Russen auch wieder vermehrt Infrastruktur und wenden Fähigkeiten an, die sie in der Vergangenheit noch gar nicht hatten.
Zum Beispiel?
Inzwischen sind sie in der Lage, die für die Ukraine besonders kostbaren Kampfjets gezielt aufzuklären und anzugreifen. Hier kursieren mittlerweile zumindest drei Videos, die zeigen, wie die Russen diese Flugzeuge, MiG29 und SU25, erkennen und mit Kamikazedrohnen bekämpfen. Wir sehen auch wieder den Anflug von Marschflugkörpern und iranischen Drohnen mit dem Ziel, Industrieobjekte und kritische Infrastruktur anzugreifen.
Der Ukraine war es ja gelungen, die russische Schwarzmeerflotte immer mehr zurückzudrängen. Von den Schiffen aus waren zuvor viele Marschflugkörper gestartet worden. Wirkt sich der Erfolg der Ukraine nun spürbar auf die russischen Fähigkeiten für Angriffe aus der Luft aus?
Die Russen mussten handeln und haben Teile ihrer Schiffe aus dem Krim-Hafen Sewastopol abgezogen. Aber leider können sie noch immer ihre schweren Bomber aus Russland starten lassen und dann aus dem Luftraum von Belarus aus Marschflugkörper abfeuern. Und sie haben noch mehr Schiffe der Schwarzmeerflotte, die auch in der Lage sind, Marschflugkörper auf die Ukraine abzufeuern. Die Luftoffensive der Russen kann das also bislang nicht stoppen, die läuft weiter.
Sie erwähnten eben die Bodenoffensiven der Russen im Osten, im Oblast Donezk, etwa den Versuch, Awdijiwka einzukesseln. Offensiven kosten eine Truppe ja sehr viel Kraft, man muss gegenüber dem Verteidiger überlegen sein. Profitiert die Ukraine davon, dass diese Kräfte und die Soldaten, die im Kampf dort fallen, den Russen im Zentrum des Landes zur Verteidigung fehlen?
Das Verheerende an der Situation ist, dass Russland offensichtlich genügend Kräfte für diese Offensiven im Osten hat. Viele hatten gehofft, dass die Offensive der Ukraine im Zentralraum dazu führen würde, dass die Russen dort in der Abwehr ihre letzten Reserven einsetzen. Sie haben auch tatsächlich vor allem Luftlandeeinheiten in den Zentralraum verlegt, aber die haben scheinbar gereicht, um die Abwehr aufrechtzuerhalten. Die Ukraine hat bislang keinen Durchbruch geschafft, und die Russen konnten sogar für die Offensive in Donezk noch zusätzliche Kräfte bereitstellen.
Hätte sich diese Offensive irgendwie verhindern lassen?
Hätte die Ukraine zum Beispiel weitreichende Boden-Boden-Raketen gehabt, wie die amerikanischen Atacms, die immer wieder Thema sind, dann hätte man die Bereitstellungsräume der Russen gezielt in der Tiefe angreifen können, noch bevor die Offensive startete. Das konnten die ukrainischen Truppen aber nicht, denn diese Raketen mit hoher Reichweite wurden bislang nicht geliefert.
Statt also den Angriff schon im Vorfeld vereiteln zu können, mussten die Ukrainer zuschauen, bis die russischen Truppen so weit waren?
Genau. Jetzt müssen sie die Offensive abwehren und darin sind sie auch erfolgreich. Das Problem ist aber, dass die Ukraine dann gezwungen ist, immer wieder neue Kräfte einzusetzen, um sich gegen diese Angriffe der Russen zu verteidigen. Und diese Kräfte fehlen, wenn es darum ginge, selbst Kräfte zu bündeln, um einen zentralen Vorstoß durchzuführen. Ein Mitglied im Verteidigungsausschuss des ukrainischen Parlaments hat vor Kurzem selbst bezweifelt, dass die Truppen das Asowsche Meer noch bis Ende des Jahres erreichen können. Nur dann jedoch wäre es möglich, das russisch besetzte Gebiet zu teilen und die Nachschubwege zu unterbrechen.
Das klingt danach, als sei die Tatsache, dass Russland mehr Soldaten, mehr Gerät, mehr Kampfkraft zur Verfügung hat als die Ukraine, bei allen technologischen Entwicklungen noch immer ein wichtiger Faktor. Ist das so?
Trotz aller militärtechnischer Entwicklungen gibt es tatsächlich noch immer das Prinzip Masse. Wenn also Kräfte massiert eingesetzt werden können, dann gelingt in der Regel auch zum Beispiel ein Durchbruch durch feindliche Linien. Die Ukraine hat jedoch folgendes Problem: Sie bekommt immer wieder Waffenlieferungen, aber eben nie so viel, dass sie sie massiert einsetzen kann. Das ist das Dilemma.
Und die Folgen daraus?
Inzwischen haben sich vor allem die ukrainischen Offensivkräfte, diese insgesamt zwölf Brigaden, von denen der Westen neun ausgestattet hatte, signifikant verbraucht. Jetzt müsste der Westen sich entscheiden, wieder neu zu liefern, damit die Ukraine im Frühjahr überhaupt in die Offensive gehen kann. Denn dazu braucht sie neue Kampfpanzer, mehr Schützenpanzer, neue Artilleriesysteme. Das müsste jetzt über den Winter geliefert werden, damit die ukrainischen Streitkräfte die Initiative wieder zurückgewinnen können. Sonst geht sie möglicherweise an die russische Seite über. Das ist das, was wir jetzt gerade sehen: Plötzlich bestimmt Russland durch seine Angriffe, wo die Ukraine ihre Kräfte einsetzen muss. Die Ukrainer sind gezwungen zu reagieren. Es sollte aber genau andersherum sein. Die Ukraine sollte bestimmen können, wo die Russen reagieren müssen. Um dieses Ruder wieder herumzudrehen, sind weitere westliche Waffen unverzichtbar.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de