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Sachsen-Anhalt"Ein Kampf jeden Tag" - Zeugen nach Magdeburg-Anschlag

02.12.2025, 13:59 Uhr
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Schmerzen, Angst und weitere Folgen: Vor Gericht berichten die Opfer, wie die Todesfahrt ihr Leben verändert hat.

Magdeburg (dpa/sa) - Sie leiden unter den körperlichen und psychischen Folgen: Wie sehr der Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt ihr Leben und das ihrer Familien verändert hat, haben mehrere Betroffene vor Gericht geschildert. Dieser Abend spiele sich seit elf Monaten immer wieder, jeden Tag, in ihrem Kopf ab und bestimme ihr Leben, sagte eine 40-Jährige, die an dem Abend ihre Mutter und Großmutter ihrer Kinder verlor. Sie sei nach wie vor krankgeschrieben, könne nicht mehr als Erzieherin an ihrer Grundschule mit 300 Kindern arbeiten. "Die Geräusche und die Menschenmengen – das geht nicht." Sie habe sich weitgehend nach Hause zurückgezogen.

Den 20. Dezember 2024 verbrachte sie mit ihrer Familie auf dem Weihnachtsmarkt, ihre Mutter habe alle eingeladen. Es gab Schmalzkuchen, Zuckerwatte, die Kinder fuhren Karussell. Sie habe ein Statusbild bei WhatsApp hochgeladen, weil es so schön war - kurz bevor sich alles änderte. Ganz helle Lichter habe sie durchschimmern sehen durch die Menschenmenge. Da sei alles schon zu spät gewesen. "Ich bin durch die Luft geflogen." Ohne Gedanken an Schmerzen sei sie sofort auf die Suche nach den Kindern gegangen, fand sie scheinbar. Panisch und verängstigt hätten diese sie angeschaut. Deren Großmutter, ihre Mutter, erlag ihren Verletzungen.

"Es ist immer noch einen Kampf jeden Tag"

Feste und Feiern gehören bei der 40-jährigen Erzieherin der Vergangenheit an, berichtete sie. Auch ihre Töchter lebten nicht das Leben, das es ohne den Anschlag gewesen wäre. Sie hätten Angst, seien schreckhaft. Musikunterricht gehe nur online. Sie fasste es so zusammen: "Es ist immer noch einen Kampf jeden Tag".

Kein Baby mehr auf dem natürlichen Weg

Eine 38 Jahre alte Industriekauffrau berichtete von zahlreichen Brüchen unter anderem im Beckenbereich, die sie durch den Aufprall erlitten habe. "Ich hatte tierische Schmerzen." Ihr Freund habe sie lange zu Hause gepflegt, ein halbes Jahr habe sie für eine Reha gekämpft. Psychische und körperliche Folgen begleiteten sie bis heute und ihr Becken sei so verschoben, "dass mir die Möglichkeit genommen wurde, ein Kind auf natürlichem Weg zu gebären".

Die Opfer sollen gehört werden, nicht nur der Täter

Die 38-Jährige gehört zu den Betroffenen, die freiwillig als Zeugen vor Gericht aussagen. "Ich finde es wichtig, dass die Opfer gehört werden und nicht nur der Täter." Die Verfahrensbeteiligten haben sich darauf verständigt, dass Betroffene nicht aussagen müssen, wenn sie nicht wollen. So sollen sie nicht zusätzlich belastet werden. Im sogenannten Selbstleseverfahren werden die Aussagen in den Prozess eingeführt, die die Zeugen bei der Polizei gemacht hatten. Es handelt sich um etwa 2.800 Seiten. Der Vorsitzende Richter, Dirk Sternberg, versichert: "Wir lesen das komplett. Das ist so vorgeschrieben. Das wird auch so gemacht."

"Wir wollen nicht, dass der Täter gewonnen hat"

Die 38-Jährige sagte, sie wolle wieder auf Weihnachtsmärkte gehen, sie habe es zunächst mit einem kleinen, eingezäunten versucht. "Wir wollen nicht, dass der Täter gewonnen hat", betonte sie. Der angeklagte 51-jährige Taleb al-Abdulmohsen aus Saudi-Arabien war am 20. Dezember 2024 mit einem Mietwagen mit bis zu 48 Kilometern pro Stunde durch die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt gefahren. Ein neunjähriger Junge sowie fünf Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren kamen ums Leben. Mehr als 300 weitere Menschen wurden verletzt.

"Finde unmöglich, wie sich der Angeklagte die Bühne nimmt"

Eine 57-Jährige sagte, sie habe erst gar nicht als Zeugin vor Gericht erscheinen wollen. "Ich habe mich dann aber dafür entschieden, weil ich es unmöglich finde, wie sich der Angeklagte hier die Bühne nimmt." Sie bezog sich auf wiederholte Aussagen des Angeklagten, er habe saudischen Frauen helfen wollen, deutsche Behörden hätten versagt. Sie fragte: "Bin ich weniger wert als die saudischen Frauen?"

Der Angeklagte versucht weiterhin, sich immer wieder zu Wort zu melden. Der Vorsitzende Richter Sternberg wies ihn mehrmals auf die Verabredung hin, dass er sich nicht direkt an die Opfer wendet, auch nicht mit Entschuldigungen.

Die 57-Jährige berichtete, dass sie das große schwarze Auto noch sah, den Aufprall mit dem Kopf spürte und dann das Bewusstsein verlor. Mehrere Meter von ihrem ursprünglichen Standort entfernt sei sie später aufgewacht. "Es war das reinste Chaos um mich rum." Die Zeuginnen betonten zugleich, wie viel Hilfe es sofort gegeben habe. "Die Hilfe war echt extrem groß."

Quelle: dpa

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