Neulinge mit schlechter Bilanz "Wir wollen ja keine Alt-Herren-Riege im DAX"
03.09.2022, 16:55 Uhr
Seit vergangenem Herbst umfasst der DAX 40 statt 30 Werte.
(Foto: dpa)
Ein Jahr nach der DAX-Aufstockung zeigt sich: Die meisten Neuzugänge bleiben weit hinter den Erwartungen. Im Interview mit ntv.de erklärt Kapitalmarktanalyst Robert Halver, warum die Aufstockung trotzdem kein Fehler war, wie dramatisch die Verluste der Aufsteiger sind und wie groß die Enttäuschung ist.
ntv.de: Im vergangenen September ist der deutsche Leitindex von 30 auf 40 Unternehmen aufgestockt worden. Ein Jahr später zeigt sich: Fast alle Newcomer sind unter ihr damaliges Kursniveau gerutscht. War die Erweiterung ein Fehler?
Robert Halver: Nein. Ich bin der festen Überzeugung, dass 40 Werte attraktiver sind als 30. Wir dürfen nicht vergessen: Seit dem vergangenen Jahr folgt eine Krise auf die andere. Corona hat etwa Zuliefererdiensten zuerst große Erfolge beschert und bewirkt jetzt genau das Gegenteil. Der Ukraine-Krieg, den kaum einer vorhergesehen hat, hat auch Tribut gefordert.
Vor einem Jahr hieß es: Mit der Aufstockung kommen Wachstumswerte in den DAX, die bewiesen haben, dass sie abliefern. Wie groß ist die Enttäuschung?
Der DAX ist früher sehr zyklisch gewesen und war stark von der Konjunktur abhängig. Die neue Industriewelt kann man aber so nicht mehr abbilden, der Leitindex musste mehr in die Breite gehen. Die Wirtschaftswelt ist wachstumsträchtiger geworden. Also muss man sie auch in den Indizes berücksichtigen. Aber man kann nicht verhindern, dass diese Werte wegen wirtschaftlicher und geopolitischer Entwicklungen - die ja als schwarze Schwäne daher kamen - in Ungnade fallen.
Wie dramatisch sind die Verluste der DAX-Aufsteiger?
Sie sind durchaus dramatisch. Die massiven Einbußen könnten dazu führen, dass Unternehmen früher oder später den DAX wieder verlassen müssen. Das gehört zur Wahrheit dazu. Der DAX ist eben ein atmender Index und eine Momentaufnahme, die sich bei Veränderungen der Wirtschaftswelt auch wieder neu aufstellt. Wenn das Ziel aber ist, dass der DAX ein moderner Index sein soll, dann ist das auch völlig in Ordnung. Was letztes Jahr gut war, ist dieses Jahr vielleicht nicht mehr gut. Aber wir wollen ja keine Alt-Herren-Riege im DAX haben, sondern Werte, die mit der Zeit gehen, mit der aktuellen Wirtschaft.
Die Hoffnung hinter der Aufstockung war, dass der DAX international an Bedeutung gewinnt. Ist das passiert?
Der DAX hatte früher für die internationalen Investoren eine große Bedeutung, weil er das Sammelbecken großer deutscher Industriewerte war. Heute spielen Wachstumswerte eine größere Rolle. Die finden sich auch im vergrößerten DAX. Allerdings sind wir im Tech-Lager im Vergleich zu Amerika schlecht aufgestellt. Aber das aufzuholen, ist nicht Aufgabe der Deutschen Börse, sondern der Wirtschaftspolitik.
Ein Jahr nach seinem Aufstieg muss der Kochboxenhersteller Hellofresh bereits wieder um seinen Platz im DAX bangen. Ist das Unternehmen zu Unrecht vor einem Jahr aufgestiegen?
Nein, wenn der DAX ein aktuelles Abbild der deutschen Wirtschaft liefert, kommen eben die passenden Aktientitel in den Index. Insofern war der Aufstieg von Hellofresh im vergangenen Jahr folgerichtig. Wenn sich das Wirtschaftsbild allerdings ändert, weil die Menschen nach Corona wieder mehr ins Restaurant gehen, dann ist das eben auch real. Während der Corona-Krise war das Geschäftsmodell von Hellofresh aber offensichtlich äußerst erfolgreich. Ich gehe davon aus, dass grundsätzlich das Bestellen von Essen nicht aussterben wird. Wer viel arbeitet und wenig Zeit hat, wird weiterhin auf Lieferdienste zurückgreifen. Aber die Not, gar nicht essen gehen zu können, die haben wir heute einfach nicht mehr.
Siemens Energy stehen aller Voraussicht nach vor dem Wiederaufstieg in den DAX. Was bedeutet das?
Durch den Aufstieg von Siemens Energy wird die Siemens-Familie noch stärker im DAX vertreten sein. Und das Energiethema, das im Moment in aller Munde ist, findet so Zugang zum deutschen Leitindex. Aber auch hier muss man sagen: Das ist richtig so. Die Zeit für Energiewerte ist da. Sie sind ein wichtiger Aspekt unseres Wirtschaftslebens geworden.
Kritiker sagen, der DAX ist ein Mietshaus in das jeder ein- und auch wieder ausziehen kann.
Wenn eine Wirtschaft so atmet wie im Augenblick, auch durch diese Krisen, dann ist das eben so und muss abgebildet werden. Es bringt nichts, einen Index zu haben, der im Grunde genommen ein Klassiker im Stile alter Industrie-Romantik und unbeweglich wie eine Eisenbahnschwelle ist. Wer soll denn alternativ festlegen, welche Werte im DAX vertreten sind? Etwa ein Komitee aus Analysten, Politikern und Wirtschaftsvertretern, die sich tagelang die Köpfe heißreden, wer aufsteigen soll und wer nicht? Im Vergleich ist das Regelwerk der Deutschen Börse eindeutig, konsequent und nicht zu kritisieren. So ergibt sich immer ein treffendes Abbild der aktuellen deutschen Wirtschaft. Wirtschaft ist eben ein lebendiger Organismus.
Mit Robert Halver sprach Juliane Kipper
Quelle: ntv.de