Regenerieren statt operieren Was bei Gelenkschmerzen wirklich hilft
06.06.2023, 11:43 Uhr (aktualisiert)
Eine Operation lässt sich oftmals vermeiden.
(Foto: imago images/Panthermedia)
Arthrose, Rheuma, Gicht: Gelenkerkrankungen sind nicht nur lästig, sondern können den Alltag erheblich einschränken. Besonders oft leiden Patientinnen und Patienten dabei unter anhaltenden Gelenkschmerzen, die häufig auch mit Medikamenten nur unzureichend in den Griff zu kriegen sind. Was den Gelenken aber wirklich gut tut und welche alternativen Heilmethoden für Betroffene existieren, verrät die Orthopädin und Buchautorin von "Gelenke im Glück", Dr. Meike Diessner, im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Wie entwickeln sich die Gelenke im Laufe des Lebens?
Dr. Meike Diessner: Im Prinzip besteht ein Gelenk aus mindestens zwei Knochenpartnern, die anatomisch von der Form her in der Regel gut zusammenpassen. Über den Knochen liegt eine Schicht an Gelenkknorpeln. Ein Gelenk verändert sich durch frühere Verletzungen, Traumata, aber auch durch eine zu hohe Drucklast, eine falsche Ernährung oder ein Missverhältnis zwischen Belastung und tatsächlicher Belastbarkeit des Knorpels. Im Laufe des Lebens lösen sich dadurch die Knorpelschichten weiter ab. Das heißt, durch diese Reibeprozesse und Druckbelastung werden kontinuierlich Mikroflakes vom Knorpel abgeschliffen, bis immer weniger Knorpelsubstanz über dem Knochen liegt. So verliert der Knorpel seine Schutzfunktion. Die Gelenkpartner rücken sich also immer näher auf den Pelz. Je mehr sich abschleift, desto mehr schreitet die Arthrose voran.
Was sind die häufigsten Gelenkerkrankungen und wie entstehen sie?

Dr. Meike Diessner ist Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin und leitet eine Praxis für integrative Orthopädie und komplementäre Therapie in Bochum. Darüber hinaus ist sie geschult in der Akupunktur, Ernährungsmedizin, manuellen Medizin sowie verschiedenen Naturheilverfahren.
Die häufigste Gelenkerkrankung ist die Arthrose. Die Hüft- und die Kniegelenksarthrose sind dabei Spitzenreiter. Dann haben wir die Gruppe der Arthritiden. Während die Arthrose überwiegend durch mechanische Abnutzung der Gelenkflächen voranschreitet, ist die Arthritis eine entzündliche Systemerkrankung, die vorwiegend die Gelenke betrifft. Die Arthritis nimmt den umgekehrten Verlauf im Vergleich zur Arthrose: Sie beginnt mit Entzündungen am Gelenk, die schlussendlich zu Gelenkschäden führen. Klassische Zeichen einer Arthritis sind Schmerzen, Schwellung, Rötung und Überwärmung. Die Arthritis ist also eine brandheiße Kiste.
Aber: Nicht jede Arthritis ist gleich Rheuma. Es gibt auch andere Arthritiden, zum Beispiel nach Infekten. Verantwortlich sind zum Beispiel Atemwegs-, Magen-Darm-, oder Genital-Erreger, die entzündliche Veränderungen an Gelenkflächen auslösen können. Ein Klassiker sind Chlamydien-Infektionen nach dem Whirlpool-Besuch. Oder Sie wurden von einer Zecke besucht, die Ihnen als Gastgeschenk einen Strauß Borrelien überreicht hat. Auch ein Zeckenbiss kann also zu solchen reaktiven entzündlichen Veränderungen an Gelenken führen. Entwickeln Sie plötzlich Schmerzen und Schwellungen an unterschiedlichen Gelenken, wandert der Schmerz von Gelenk zu Gelenk oder fühlen Sie sich in letzter Zeit müde und abgeschlagen ohne erkennbaren Grund, dann sollten Sie überlegen, ob Sie sich in den vergangenen Wochen einen Infekt eingefangen haben, von einer Zecke gebissen wurden oder womöglich Gicht haben.
Ihr Arzt wird unter anderem eine Blutuntersuchung veranlassen, um eine reaktive Arthritis von anderen Gelenkerkrankungen zu differenzieren. Ein Leben wie Gott in Frankreich kann dazu führen, dass Ihr Körper die Party vor Ihnen verlässt. Plötzliche starke Schmerzen der Großzehe mit Rötung, Schwellung und Überwärmung deuten auf einen Gichtanfall hin. Typische Auslöser sind Grillfleischexzesse, die mit ordentlich Gerstensaft heruntergespült wurden. Auch hier verschafft eine Blutuntersuchung diagnostische Sicherheit, da im Blut der Patienten ein erhöhter Harnsäurespiegel vorliegt.
Was halten Sie von Schmerzmitteln und Kortison zur Bekämpfung von Gelenkschmerzen?
Wer sich mit ständigen Schmerzen durchs Leben schlägt, der will zu Recht ein bisschen mehr hören als "mehr bewegen und gesünder essen". Eine Pille ist dann also durchaus nicht der letzte Wille, denn gerade bei akuten Entzündungen an den Gelenken oder der Wirbelsäule helfen Lifestyle-Änderungen nicht sofort aus der Klemme. Beim Einsatz von Schmerzmitteln ist entscheidend, dass das Medikament an die individuelle Situation angepasst ist. Es gibt nämlich nicht die eine "Wunderpille" gegen alles. Gerade bei aktivierten Arthrosen oder auch rheumatischen Erkrankungen sollte das Medikament also nicht nur den Schmerz beseitigen, sondern auch gegen die Entzündung wirken. Denn wichtig zu verstehen ist, dass nicht der Verschleiß den Schmerz erzeugt, sondern die daraus entstehende Entzündung. Beseitigt man die Entzündung nicht, entwickeln sich Bewegungseinschränkungen und Schonhaltung durch weitere Fehlbelastung, die dann zu Beschwerden benachbarter Gelenke führen. Gleiches gilt für den kurzfristigen Einsatz von Kortisonspritzen in der Akutsituation.
Kortison kommt zum Einsatz, wenn zum Beispiel bei einem Bandscheibenvorfall neurologische Ausfallerscheinungen bestehen oder bei einer ausgeprägten Gelenkschwellung durch eine aktivierte Arthrose, da Kortison noch stärkere entzündungshemmende Eigenschaften aufweist. Kortison wirkt, wo es gerade brennt. Das heißt jetzt aber nicht, dass wir bei jedem Zwicken direkt zur Pille greifen, als wären es Halsbonbons, oder Kortisonspritzen als Flatrate verabreichen sollten. Leider haben die ausgezeichneten entzündungshemmenden Eigenschaften ein ganzes Portfolio an Nebenwirkungen im Gepäck. Aber durch den gezielten und kurzfristigen Einsatz solcher Maßnahmen kommt der Patient schneller auf die Beine und Folgeschäden können verhindert werden. Es gilt die Devise: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Sprich, ist der akute Brand gelöscht, kann man mit alternativen Therapien weiterbehandeln.
Inwiefern kann eine Ernährungsumstellung den Gelenken helfen?
Die Ernährung hat eine große Relevanz für den ganzen Körper. Man sagt immer "Du bist, was du isst" und das gilt auch für unseren Bewegungsapparat. Wir können unsere Gelenke quasi wieder fit füttern. Eine große Rolle bei Arthrose spielen chronische Entzündungsprozesse. Durch das Weglassen vor allem von tierischen Nahrungsmitteln, insbesondere Schweinefleisch sowie industriell stark verarbeiteten Lebensmitteln, die vollgepumpt sind mit chemischen Zusatzstoffen, Transfetten und Haushaltszucker, können Entzündungsprozesse wirksam gelöscht werden. Denn all diese Nahrungsmittel feuern chronische Entzündungen in unserem Körper an. Lassen Sie also die Sau raus aus Ihrer Ernährung.
Was sollte man am besten essen, um den Gelenken etwas Gutes zu tun?
Über eine pflanzenbasierte Ernährung kann man effektiv chronische Entzündungsprozesse und Gelenkschmerzen vermeiden. Es gibt zahlreiche Nahrungsmittel, Kräuter und Gewürze, die antientzündlich wirken, gleichzeitig unsere Gelenke kräftigen und die Muskelspannung senken. Eine besondere Rolle spielen Omega-3-Fettsäuren, aber auch Antioxidantien wie Vitamin A, B2, C und E sowie unter anderem die Mineralstoffe Glutathion und Schwefelverbindungen. Und das Beste ist: Für all diese antientzündlichen Wirkstoffe aus der Natur müssen wir gar nicht weit in die Ferne schweifen und unser Geld für überteuerte exotische Superfoods verpulvern: Vitamin B2 und C finden wir zum Beispiel in unserem heimischen Grünkohl, Glutathion in Kartoffeln und Schwefelverbindungen im Lauchgemüse.
Ausreichend Bewegung ist auch bei kranken Gelenken wichtig. Welche Sportarten tun den Gelenken gut und welche nicht?
Bewegung ist wirklich so wichtig, auch wenn man damit vielen auf den Senkel geht. Allerdings gilt bei Gelenkbeschwerden nicht "Augen zu und durch". Ich plädiere da immer für Bewegung mit Köpfchen. Das bedeutet: Bitte nicht in den Schmerz "hineinlaufen". Salopp gesagt, immer erst den Kopf einschalten, bevor man loslegt und dann auf ein gelenkschonendes Training achten. Unsere Gelenke lieben alles, was gleichförmig ist, möglichst ohne Stauchungsbelastung. Radfahren, Aquagymnastik, aber auch Walken schont unsere Gelenke. Bewegungen mit schnellen Richtungswechseln und Stop-and-Go-Bewegungen sind bei vorgeschädigten Gelenken eher ungeeignet. Training funktioniert, aber auch ganz nebenbei, zum Beispiel am Schreibtisch. Das müssen keine aufwendigen Dinge sein. Einfach mal kurz vom Bürostuhl aufstehen, das Radio aufdrehen und die Schultern zur Musik kreisen lassen. Das bringt schon Entlastung für den Schulter-Nackenbereich. Aber auch Übungen für die Stabilisation der Wirbelsäule klappen vom Schreibtisch aus. Schnell mal auf dem Bürostuhl den Hintern zusammenkneifen und die Spannung zehn Sekunden halten. Denn über das Training des Beckenbodens lässt sich der untere Rücken hervorragend stabilisieren.
Sie arbeiten in Ihrer Praxis auch mit Behandlungsmethoden aus der Orthobiologie. Was genau steckt dahinter?
Es gibt heutzutage eine Reihe an sogenannten orthobiologischen Therapien wie das ACP-, Verfahren, die Hybrid- oder Fettzelltherapie. Alle Verfahren haben ein Ziel: sanft zu regenerieren, anstelle zu operieren. Dabei nehmen wir den Patienten Blut ab, stecken das in eine Zentrifuge und isolieren so die körpereigenen Wachstumsfaktoren und antientzündlichen Botenstoffe aus dem Patientenblut. Diese werden dann anschließend in die von Arthrose betroffenen Gelenke oder in verletzte Bänder, Sehnen und Muskeln injiziert. Bei sehr fortgeschrittenen Befunden kann man die Wachstumsfaktoren zusätzlich mit Hyaluronsäure anreichern oder auf eine Fettzelltherapie zurückgreifen. Das ist der modernste Ansatz der Arthrosetherapie. Darauf gehe ich in meinem Buch noch genauer ein. Das Faszinierende an der Orthobiologie ist, dass durch körpereigenes Material das Gewebe auf sanfte Weise regeneriert werden kann, die Patienten wieder eine hervorragende Lebensqualität haben und Operationen nicht mehr erforderlich sind oder über Jahre hinausgeschoben werden können.
In welchen Fällen ist eine Operation aus Ihrer Sicht die beste Lösung?
Es gibt Verletzungen oder Befunde, in denen die konservative Therapie an ihre Grenzen kommt und die ohne Zweifel operiert werden müssen. Es gilt immer, Folgebeschwerden zu vermeiden und befundgerecht zu behandeln. Doch bevor das Skalpell schon poliert wird, sollte man sich bewusst sein, dass gerade ein Gelenkersatz immer die Endstation einer therapeutischen Kette ist, denn alles, was wir ersetzen, ist irreversibel. Generell gilt: Will man eine OP verhindern, ist es wichtig, rechtzeitig von verschiedenen Seiten anzugreifen. Denn nicht die eine Injektion, das eine Schmerzmittel oder ausschließlich die Ernährung bringen den größtmöglichen Erfolg, sondern die Kombination aus allen zur Verfügung stehen Behandlungen und die eigene Motivation, nicht aufzugeben.
Wie kann man mit Gelenkschmerzen mental besser fertig werden?
Das Wichtigste ist immer die Motivation des Patienten. Denn er kann wesentlich und aktiv seinen Heilungsprozess beeinflussen. Entscheidend ist, sich bewusst zu werden, dass eine Arthrose nicht über Nacht entsteht. Insofern wäre es illusorisch, zu denken, dass die eine Spritze oder das eine Schmerzmittel im Handumdrehen vollständige Beschwerdefreiheit bringt. Das muss man sich immer vor Augen führen. Es steht also Geduld auf der Tagesordnung. Wichtig ist auch, sich kleine Ziele zu setzen und sich Schritt für Schritt voranzuarbeiten. Wenn die Patienten erste Erfolge merken, steigt auch die Motivation, dranzubleiben.
Mit Dr. Meike Diessner sprach Isabel Michael
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 26. April 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de