Leben

Entschleunigende 1. Biennale Ostfriesland kann mehr als Tee und Witze

"Hänsel und Gretel (Let me in Ruh')" - so der Titel der sehenswerten Ausstellung von Conny Maier und Jonathan Meese im Kunstverein Aurich.

"Hänsel und Gretel (Let me in Ruh')" - so der Titel der sehenswerten Ausstellung von Conny Maier und Jonathan Meese im Kunstverein Aurich.

(Foto: Jana Edisonga, courtesy the artists and Office Impart)

Am Anfang war ein Freundeskreis. Sie kennen sich aus Schulzeit oder Job. Ostfriesland ist die Verbindung. Sie alle kommen immer wieder dorthin und lieben diesen Landstrich. Jetzt haben sie innerhalb eines Jahres eine Kunstschau gestemmt, verbinden Kunst und Landschaft miteinander. Für die 1. Ostfriesland Biennale schwingen sich die Besucher am besten aufs Fahrrad: Auf 250 Kilometern finden sich 30 Künstlerinnen und Künstler an 17 Orten. In Burgen, Schlössern, Kirchen, Gärten oder Museen trifft das Publikum auf einen gekonnten Mix aus Stars wie Jonathan Meese oder Alicja Kwade und - noch - Unbekannten. n-tv.de hat Ina Grätz, Kunsthistorikerin und Vorsitzende des Vereins Ostfriesland Biennale e.V., getroffen. Ein Gespräch über den Landstrich, Kunst, Meer, Grenzüberschreitungen, Tattoos, Tee und Witze.

n-tv.de: Wieso braucht Ostfriesland eine Biennale?

Die Köpfe hinter der 1. Ostfriesland Biennale: Willelm Müller, Silke Oldenburg und Ina Grätz.

Die Köpfe hinter der 1. Ostfriesland Biennale: Willelm Müller, Silke Oldenburg und Ina Grätz.

(Foto: diebilderwerft, Lars-Josef Kammer)

Ina Grätz: Wir haben hier eine facettenreiche Landschaft, die sich schnell auf komprimierter Fläche ändert. Da ist das Wattenmeer, die Nordsee, Moore, Wälder, die Marsch. Das wollten wir in unserem Freundeskreis mit Kunst verbinden. Das war im vergangenen Jahr die Geburtsstunde der Biennale. Spannend ist, dass wir grenzüberschreitend Kunst auch in den Niederlanden zeigen.

Warum gerade dort?

Die Niederlande in Richtung Groningen haben ebenfalls faszinierende Orte, Burgen, Museen und eben eine ähnliche Landschaft. Warum also an der Grenze aufhören, wo doch die Landschaft auch nicht an der Grenze aufhört? Außerdem soll unsere Biennale keine Eintagsfliege werden, also haben wir groß gedacht.

Sie sind quasi grenzenlos. Was macht die Biennale noch anders?

Landschaft ist unser Hauptthema. Es gibt zum allerersten Mal in Ostfriesland eine so große Ausstellung zeitgenössische Kunst jenseits eines Museums, also draußen, zu erleben.

Können Sie ein Beispiel geben?

Uns war bei der Auswahl der Arbeiten wichtig, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Kunstwerk gibt. Die Verbindung zum Ort haben nicht die Künstlerinnen und Künstler geschaffen, sondern wir. So können wir auch kulturhistorische Geschichten erzählen. Zum Beispiel hat der Künstler Marc Brandenburg sich in Berlin mit Tattoos beschäftigt. Die spielen hier in Ostfriesland eine völlig andere Rolle als in der Stadt. Denn für den Seefahrer war das Tattoo eine Möglichkeit der Identifikation, falls er auf See starb. Die junge Künstlerin Lena Marie Emrich hat eine Bank im Schlosspark Evenburg installiert, die unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Wenn man darauf Platz nimmt, schaut man auf das historische Schloss auf der einen Seite, auf die Landwirtschaft und die Parksituation auf der anderen.

Wie kam der Kontakt zu den Künstlern wie Alicja Kwade, Tony Cragg oder Jonathan Meese zustande? Um einige der bekannten Namen zu nennen, die dabei sind.

Da kam eins zum anderen, es war ein dynamischer Prozess, sonst wäre das alles so nicht möglich gewesen. Die Orte haben uns inspiriert, dann hatten wir dazu passende Arbeiten im Kopf und haben unendliche Gespräche geführt. Viele kennen Ostfriesland nur vom Durchfahren. Wir haben jetzt Kooperationen mit den Museen in Emden, Groningen oder Wilhelmshaven und sind glücklich über den Zuspruch.

Ostfriesland kann also Kunst?

Auf jeden Fall!

Was darf das Publikum Ihrer Meinung nach auf keinen Fall verpassen?

Da muss ich zwei Antworten geben: Wir wollen, dass man die Landschaft gleichermaßen wahrnimmt, sie ist unser Ausgangspunkt. Die ostfriesische Landschaft ist unser Ausstellungsort, der Himmel ist unfassbar und der Blick kann hier kilometerweit schweifen. Die Besucher sollen die Landschaft in ihrem Facettenreichtum erleben, daher bitte unbedingt ein Fahrrad schnappen. Die andere Antwort, als Must-sees für die Kunst, da sollten die Neugierigen unbedingt die Orte besuchen, die sie nicht kennen. Damit überraschen wir.

Haben Sie selbst Überraschungen erlebt bei der Planung der Biennale?

Was ich für mich mitgenommen habe und was doch überraschend war, das ist, wie viel Unterstützung wir von den Niederländern und Ostfriesen bekommen haben. Dieses "Ja, wir machen mit" ist faszinierend und trägt unser Projekt.

Wo kommt Ihr Enthusiasmus her?

Die ostfriesische Landschaft, Schlösser und Burgen im perfekten Zusammenspiel mit der Kunst. Hier an der Burg Herum die Installation „Weltbewegend" von Patricia Pisani.

Die ostfriesische Landschaft, Schlösser und Burgen im perfekten Zusammenspiel mit der Kunst. Hier an der Burg Herum die Installation „Weltbewegend" von Patricia Pisani.

(Foto: VG-Bild Kunst, Bonn, 2022)

Das ist etwas, was in uns Ostfriesen steckt. Wir haben uns gegenseitig motiviert. Haben den Verein gegründet, um die Biennale hier umzusetzen. Im Kern sind wir acht Leute und inzwischen kamen noch viele andere dazu.

Klingt nicht nach dem begriffsstutzigen Ostfriesen aus den Witzen …

(lacht) Ach, das ist ein blödes Klischee.

Laut Lexikon sind die Ostfriesen-Witze in den 60er-Jahren im Ammerland bei Oldenburg entstanden und waren als kleine Sticheleien gedacht. Damit wurde deutschlandweit eine Witzewelle ausgelöst.

Dadurch kennen immerhin viele Leute Ostfriesland. Wenn ich das Dorf nenne, wo ich herkomme, kennen Sie das nicht. Wenn ich aber sage: "Ich bin aus Ostfriesland", können Sie das einordnen, das haben die Witze mit sich gebracht. Ich bin eine sogenannte Butenostfriesin, bin also hier geboren und aufgewachsen, habe dann aber das Land verlassen. Butenostfriesen haben oft eine enge Beziehung zu ihrer Heimat, wir sind geprägt durch Erinnerungen. Deswegen ist mir der Hinweis mit dem Rad so wichtig, weil man dann die Landschaft und den Himmel mit der Kunst zusammen wahrnimmt. Sie sprachen von Enthusiasmus - wir wollen einfach unsere Begeisterung für Ostfriesland teilen.

Zu Ostfriesland fallen mir außerdem spontan Meer, Tee und Otto Waalkes ein ...

Auf ihrem Gossip Chair die Künstlerin Lena Marie Emmrich im Schlosspark Evenburg.

Auf ihrem Gossip Chair die Künstlerin Lena Marie Emmrich im Schlosspark Evenburg.

(Foto: Courtesy the Artist and OFFICE IMPART)

Darauf sind wir auch stolz. Tee zu trinken zelebrieren wir hier sehr. Für mich gehört noch die Seefahrt dazu. Da gibt es viele Bezüge, das Meer ist unheimlich wichtig. Und dann ist da noch etwas wirklich Besonderes in unserer Geschichte: die friesische Freiheit.

Das müssen Sie bitte erklären ....

Das ist eine einzigartige Gesellschaftsform im Mittelalter in Ostfriesland gewesen und bedeutete für die Ostfriesen ein hohes Maß an Autonomie und wenig Hierarchie. Besonders spannend ist, dass in dieser Zeit auch Piraten wie Klaus Störtebeker in Ostfriesland waren. Es gibt aus dieser Zeit heute noch Burgen und Gebäude mit einer sehr eigenen Architektur.

Wie würden Sie jemandem, der noch nie da war, Ostfriesland schmackhaft machen?

Ostfriesland und die Biennale werden die Besucher überraschen und begeistern. In den vergangenen zwei Jahren mit der Pandemie haben sich alle nach Entschleunigung und Ruhe gesehnt, die kann man hier finden. Die Besucher sehen nicht alles auf einem Fleck und in einer Ausstellung. Sie müssen sich Zeit nehmen, um ganz unterschiedliche Orte kennen zu lernen und die Kunst zu entdecken.

Jetzt muss ich noch mal mit den Witzen um die Ecke kommen …

(lacht) Klar, ich soll einen erzählen. Mir fällt nur einer ein, den fand ich als Kind lustig, aber heute überhaupt nicht mehr: Warum sind ostfriesische Busse vorne so breit?

Keine Ahnung.

Weil alle in der ersten Reihe sitzen wollen …

Egal in welcher Reihe ich sitze, am liebsten würde ich sofort nach Ostfriesland fahren. Letzte Frage: Was machen Sie 2024 zur 2. Biennale anders?

Die erste Ausgabe ist ein gutes Fundament, daran werden wir anknüpfen. Aber eigentlich haben wir die Vision, noch mehr in die Fläche gehen, weil hier so viele besondere Orte versteckt sind. Außerdem wünsche ich mir, dass Kunstwerke extra für Ostfriesland entstehen, dazu war dieses Mal einfach nicht die Zeit.

Mit Ina Grätz sprach Juliane Rohr

Ostfriesland Biennale bis zum 4. September, alle Informationen zu den Orten finden Sie hier.

Quelle: ntv.de

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