Eine für alle Sterbend liegengelassen - das Ende der Menschlichkeit


Nepal stellte in dieser Saison eine Rekordzahl von 478 Genehmigungen für ausländische Bergsteiger aus, insgesamt etwa 600 Bergsteiger und Bergführer erreichten am Ende den Gipfel. Unter den Expeditionsanbietern herrscht dabei harte Konkurrenz.
(Foto: imago images/Panthermedia)
Auf Mount Everest, K2 und Co. geben sich die Bergsteiger und die, die sich einen teuren Lebenstraum erfüllen wollen, die Klinke in die Hand. Dass sie dabei über Leichen gehen, ist bereits normal. Dass sie über Sterbende, die gerettet werden könnten, gehen, ist neu.
Ich kenn' das so: Man geht auf den Berg, und denen, die einem entgegenkommen, sagt man - regional unterschiedlich - auf irgendeine Art und Weise "Hallo", "Guten Tag", "Grüß dich" oder gar "Grüß Gott". Wenn man also auf das Dach der Welt will, zum Beispiel im Himalaya, dann käme man Gott, sofern vorhanden, ja recht nahe. Dieses Gefühl beschleicht mich persönlich glücklicherweise bereits, wenn ich auf dem Herzogstand herumkraxel (1.600 m) oder auf der Neureuth am Tegernsee. Ein Lacher, ich weiß, aber ich find's göttlich. Ich bekomm' von alleine Luft und oben erwartet mich ein Kaßpressknödel und ein Bier. Mein Traum ist es, den Uhuru-Peak zu erreichen. Er thront 5895 Meter hoch auf dem Kilimandscharo und ist leichter zu besteigen als Mount Everest, K2 und Co. Ich kenn' welche, deren Lunge pfeift definitiv mehr als meine, und sie waren auf dem "Kili". Aber hier soll es ausnahmsweise mal nicht um meine Träume, Wünsche und Pläne gehen, sondern darum, dass die Welt kaputtgeht und es dringend an der Zeit ist, sie besser zu machen. Das funktioniert nur mit einer großen gemeinschaftlichen Anstrengung. Zu der ich hiermit aufrufe.

Ohne die nepalesischen Bergführer, meist Angehörige des Volks der Sherpa aus den Tälern rund um den Mount Everest, würde kaum ein Ausländer den Gipfel erreichen.
(Foto: picture alliance / Westend61)
Es geht um Folgendes: Vor rund zwei Wochen war der 35-jährige pakistanische Bergträger Mohammed Hassan am Achttausender K2 gestürzt und schließlich ums Leben gekommen. Das kann passieren beim Bergsteigen. Sein Tod löste jedoch einen Aufschrei auf, nachdem Videos bekannt wurden, die ihn am Unglücksort noch am Leben zeigten. "Es ist bedauerlich, dass niemand anhielt, um dem sterbenden Mann zu helfen", sagte Abu Zafar Sadiq, Präsident des pakistanischen Alpinclubs, lediglich dazu. Bedauerlich! Abu, geht's noch? Bedauerlich? Es ist grausam, perfide, unmenschlich, geradezu abartig. Ja, mehrere Lawinen seien am Unglückstag an dem Engpass am K2 ausgelöst worden, der schwierigsten und tödlichsten Stelle vor dem Gipfel, und vielleicht seien die Bergsteiger deshalb nicht zu Hilfe geeilt. Aber über ihn hinwegsteigen konnten sie ja noch, oder Abu? Von einem Kameramann gemachte Drohnenaufnahmen zeigen rund 70 Bergsteiger (siebzig!) an der engen Stelle in etwa 8.300 Metern, die an dem Sterbenden vorbeigegangen sind. "Einige der Bergsteiger wurden von den Lawinen getroffen, aber zum Glück wurde niemand mitgerissen", so Abu Zafar Sadiq weiter. Niemand? Aber ein Bergträger lag am Wegesrand, halb tot, halb lebendig. Kein Bergsteiger? Kein Mensch?
Na ja, Abu ist noch nicht fertig mit seinen "Erklärungen": "Ein weiterer Grund könnte sein, dass Menschen sich beeilen wollen, um ihren Traum zu erfüllen, wenn sie nur noch wenige Meter von ihrem Ziel entfernt sind." Natürlich – da steckt eine Menge Geld im Spiel, Weltrekorde müssen aufgestellt, Guinnessbucheinträge eingetragen, Sponsoren nicht enttäuscht werden. Wer einen Aufstieg abbricht, kann vielleicht erst wieder im nächsten Jahr starten. Und trotzdem: Sind die 10.200 Euro, so viel kostet die Genehmigung der nepalesischen Regierung für den Aufstieg, und die ca. 30.000 Euro für die Expedition es wert, einen Menschen sehenden Auges sterben zu lassen?
"Elendig verreckt"
Reinhold Messner findet: "Nein!" Der legendäre Bergsteiger kritisiert im österreichischen Fernsehen, dass aufgrund der vielen touristischen Bergsteiger kein Zusammenhalt am Berg mehr zu spüren sei. "Am Berg war bis vor wenigen Jahrzehnten eine große Solidarität vorhanden." Erfahrene Bergsteiger hätten ihre Touren für Schwächere in Not abgebrochen. Das sei – wie die jüngsten Ereignisse am K2 zeigen – nun anders.
Auch der Tiroler Bergsteiger Wilhelm Steindl hat Zweifel. Er und ein deutscher Kameramann waren am Tag des Unglücks am K2, wie "Der Standard" berichtete. Von dem Vorfall bekamen sie zunächst nichts mit. Auf einer Drohnenaufnahme sollen sie dann den im Sterben liegenden Träger Hassan gesichtet haben, als sie bereits ins Basislager zurückgekehrt waren. "Er ist dort elendig verreckt. Es hätte nur drei, vier Leute gebraucht, ihn runterzubringen", wird Steindl zitiert.
Doch diese Saison auf dem Mount Everest ist so tödlich wie selten zuvor: 13 Tote (und fünf Vermisste) haben dort 2023 ihr Leben gelassen. Ein Mann hat übrigens gezeigt, dass es durchaus möglich ist, zu helfen, auch in größter Not: Sherpa Gelje ist es zu verdanken, dass kein weiteres Todesopfer dazukam. Dieser Sherpa überzeugte seinen Kunden davon, die Tour abzubrechen, um den Verunglückten zu retten. Er trug den Malaysier mehrere Stunden aus der Todeszone in einen Schlafsack gehüllt auf dem Rücken ins nächste Basislager. Ein gefährlicher Abstieg! Aber eigentlich eine normale menschliche Reaktion, selbst in einer Höhe, die kaum noch Sauerstoff bietet (in 7000 Metern Höhe ist der menschliche Körper extremen Strapazen ausgesetzt, ab 8000 wird es nach 48 Stunden tödlich). Gelje sagt: "Wir konnten sein Leben retten, weil wir unsere Expedition aufgaben."
Hätte eine ähnliche Reaktion das Leben des jungen Bergträgers Hassan retten können, wenn er auf menschlichere Bergsteiger getroffen wäre? Menschen, die nicht nur ihr teuer erkauftes Ziel vor Augen hatten und gnadenlos über ihn hinweggestiefelt sind, sondern Menschen, die in einem Bergträger einen ebenso wertvollen Menschen sehen wie in einem anderen Bergsteiger. Wie beispielsweise dem vor einiger Zeit erst verunglückten Extremsportler Luis Stitzinger: Der tödlich Verunglückte wurde von fünf Sherpas geborgen, um würdig beerdigt werden zu können.
Höchste Müllkippe der Welt
Mag sein, dass ich das nicht verstehe, dass ich diesen Reiz der Gefahr, den Reiz des Unentdeckten (wobei davon auf dem Mount Everest und seinen Geschwisterbergen wohl kaum mehr die Rede sein kann) oder diese körperliche Herausforderung einfach nicht brauche. Wenn selbst Sherpas nicht auf einen Kangchendzönga ("Die fünf Schatzkammern des großen Schnees") wollen (dort war Extrem-Skifahrer Stitzinger unterwegs), diese und ähnliche Touren aus reiner Profitgier aber angeboten werden, dann werden wir noch viele weitere Tote zu beklagen haben.
Aber vielleicht hat das alles bald ja sowieso ein Ende: Der Mount Everest wird eventuell gar nicht mehr zu besteigen sein, weil er zu einer Müllhalde verkommen ist: Kaputte Zelte, Essensreste und Verpackungen, leere Sauerstoffflaschen, all das gammelt auf dem – für die Sherpas – Heiligen Berg vor sich hin. Wer also die bald höchste Müllkippe der Welt besteigen möchte, sollte sich vielleicht zuvor dafür einsetzen, dass mal einer aufräumt.
Passt in unsere Zeit
Noch ein Wort zur norwegischen Rekordbergsteigerin Kristin Harila, die mit dem Sherpa Tenjen Lama in 92 Tagen alle Achttausender bestiegen hat: Sie soll ja mit acht Sherpas unterwegs gewesen sein – und sie hätte, so wird ihr vorgeworfen, den sterbenden Mohammad Hassan retten können. "Kristin Harila hat in den letzten Wochen erreicht, was ich eigentlich für unmöglich gehalten habe", sagt Billi Bierling, die Leiterin der "Himalayan Database"-Chronik zu alledem letztendlich. Die Art, wie Harila und ihre Sherpas die hohen Berge bestiegen hätten, habe nichts mehr mit Alpinismus beziehungsweise der Ethik im klassisch-alpinistischen Stil zu tun, "aber es passt in unsere Zeit", so Bierling.
"Wie auch immer die Umstände waren, jemand hätte dem armen Kerl helfen müssen", beendete Abu Zafar Sadiq, Präsident des pakistanischen Alpinclubs, seine "mitfühlenden" Ausführungen zum Tode von Mohammed Hassan. Verstanden wird er sicher von der bulgarischen Bergsteigerin Silvia Azdreeva: "Ein Mensch starb vor meinen Augen. Einen Moment lang war er noch am Leben und dann mussten wir auf dem Rückweg über seine Leiche auf der Eiskante springen, an der wir vorbeikamen." Eiskalt irgendwie, oder?
Quelle: ntv.de