Auffälliges Fallaufkommen Prominenteste Corona-Kennzahl sackt ab
08.03.2023, 23:12 Uhr
Auffallend viele Regionen mit Inzidenzwerten unter 50: Die "Virus-Lage" in Deutschland am 8. März 2023.
(Foto: ntv.de Infografik)
Drei Jahre nach Pandemiebeginn zeichnet sich in den Daten ein beeindruckendes Schauspiel ab: Die Inzidenzwerte gehen flächendeckend zurück, die Deutschland-Karte zur Viruslage wechselt schlagartig die Farben. Auslöser der Entwicklung ist jedoch kaum das Infektionsgeschehen.
Mehr als 1100 Tage nach dem ersten bestätigten Coronavirus-Fall in Deutschland meldet das Robert-Koch-Institut (RKI) in seinen täglich veröffentlichten Meldedaten zur Pandemie-Lage dramatische Entwicklungen: Anfang März geht das gemeldete Fallaufkommen bundesweit in den Sinkflug.
Die offizielle Sieben-Tage-Inzidenz - lange Zeit der wichtigste Indikator zur Einschätzung der Corona-Situation in den gut 400 deutschen Städten, Landkreisen und Regionen - verliert schlagartig an Höhe.
Hinweis: Daten und Infografiken werden laufend aktualisiert.
Die Zahl der bundesweit erfassten Ansteckungen mit Sars-CoV-2 sackt von einem Niveau von gut 130 Fällen pro Woche je 100.000 Einwohnern Ende Februar auf zuletzt 61,4 Fälle ab. Das ist der mit Abstand niedrigste Inzidenzwert seit mehr als einem Jahr. Tiefer lag die amtliche Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland zuletzt im September 2021.
Und: Es ist jetzt schon abzusehen, dass sich das Meldeaufkommen in den kommenden Tagen weiter zurückentwickeln wird. Grund ist jedoch nicht etwa eine plötzlich auftretende "Herdenimmunität" oder ein wundersames Abklingen des allgemeinen Infektionsrisikos. Auslöser für den Einbruch bei den amtlich bekannten Covid-Fällen ist vielmehr eine politische Weichenstellung.
Anfang März endete in Deutschland der reguläre Anspruch auf kostenfreie PCR-Tests. Zudem entfällt die Corona-Testpflicht für Besucher in Kliniken oder Pflegeheimen.
Selbst Kontaktpersonen oder Verdachtsfälle mit eindeutigen Symptomen erhalten in der Regel keine Möglichkeit mehr, sich kostenfrei testen zu lassen. Die Folge: Es wird deutlich weniger getestet. Die deutsche Pandemiestrategie wechselt in eine Art Blindflug.
Daten direkt aus den Kliniken
Für die amtliche Pandemiestatistik hat das erhebliche Folgen: Weil das RKI bei der Inzidenzberechnung per Definition seit jeher nur laborbestätigte Infektionsfälle zählt, wirkt sich jede Hemmschwelle im Test-System stark auf das erkannte Fallaufkommen aus.
Die ersten Effekte der neuen Meldesituation sind bereits kurz nach dem Monatswechsel erkennbar - und damit vor Ablauf des vollen Sieben-Tage-Zeitraums. Der Inzidenzberechnung gehen die Meldefälle aus. Die Aussagekraft der vom RKI weiterhin Tag für Tag erhobenen Daten läuft zunehmend ins Leere.
Sieben-Tage-Inzidenz im Leerlauf
Zum Vergleich: Die Fallzahlen von Mittwoch, 1. März lagen bereits knapp ein Viertel unter dem Niveau von Dienstag, 28. Februar - und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt im Wochenverlauf üblicherweise noch ähnlich hohe Meldestände zu erwarten gewesen wären.
Mit jedem weiteren Tag wird die Datenbasis dünner: Das Fallaufkommen von Freitag, 4. März bewegte sich bereits rund 60 Prozent unter dem Niveau des Freitags davor: Bundesweit wurden laut RKI statt knapp 21.000 nur noch rund 8300 Infektionen gemeldet. Andere Indikatoren, wie etwa die unabhängig vom RKI-Meldesystem erhobenen DIVI-Daten zur Lage auf den deutschen Intensivstationen - deuten aktuell nicht auf eine generelle Entspannung hin.
Blindflug zurück in die "Normalität"?
Die Sieben-Tage-Inzidenz - die prominenteste Kennzahl zur aktuellen Pandemie-Lage - koppelt sich dagegen von der Entwicklung ab: Optisch wird sich die Deutschland-Karte zur Corona-Situation in den Regionen in den kommenden Tagen rapide verwandeln. Je weiter der März voranschreitet, und je weniger Betroffene vom PCR-Testsystem erfasst werden, desto mehr Kreise werden mit ihren Inzidenzwerten unter die 2020 von der damaligen Bund-Länder-Runde eingeführte Warnschwelle von 50 Infektionen in sieben Tagen je 100.000 Einwohner rutschen. Regionen in Orange werden bald in Dunkelgrau erscheinen. Das Infektionsgeschehen wird davon natürlich unberührt weiterlaufen.
Die Masse der Infektionsfälle wird es künftig nicht mehr in die offiziellen Inzidenzwerte schaffen. Für die Einschätzung der Corona-Lage muss sich die Öffentlichkeit dringend auf andere Kennzahlen konzentrieren. Beim RKI stützen sich die Fachleute schon seit längerem auf ein ganzes Bündel an weicheren oder indirekteren Indikatoren. Ausgewertet werden dort etwa Labor-Stichproben zur allgemeinen Viruslast in Deutschland, Angaben aus dem Grippeweb und Zahlen aus dem Netzwerk der Sentinel-Arztpraxen, mit dem sich Infektionswellen von Atemwegserkrankungen im ungefähren Umfang erkennen lassen.
Die harte Pandemie-Bilanz
Dazu kommen experimentelle Ansätze wie die Suche nach Corona-Spuren im Abwasser und natürlich die harten nachlaufenden Indikatoren wie die Bettenbelegung auf den Intensivstationen und die Covid-Befunde auf den Totenscheinen. Für Fachleute mag dieser Ansatz sicher ausreichen. Doch taugen die Daten aus den Surveillance-Systemen des RKI als Grundlage für eine Debatte in der breiten Öffentlichkeit? Woran können sich Politiker und Kritiker künftig halten?
Immerhin: Bisher sieht es nicht danach aus, als ob die jüngsten Infektionswellen zum Ende des Winters 2022/23 zu einem ähnlich dramatischen Anstieg bei der Zahl der täglich gemeldeten Covid-Toten führen wie in den Vorjahren. Was künftig jedoch in Deutschland fehlt, sind schnelle und halbwegs verlässliche Meldedaten aus der Fläche, um regionale Erfolge - oder Misserfolge - im Kampf gegen das Coronavirus abzubilden.
Quelle: ntv.de