Frauen-Hauen in der Nordsee Auf Borkum ist man gern unter sich


Die Klaasohm-Tracht hat strenge Vorgaben - unter anderem gehört ein "massiv bedrohlich aussehender Helm" dazu. Und ein Sprung in die Menge.
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Berichte über die "Tradition", beim sogenannten Klaasohmfest Frauen mit Kuhhörnern zu schlagen, sorgen bundesweit für Empörung. Ein Team filmte, wie Frauen bei dem Fest auf der Straße von "Fängern" festgehalten werden und ihnen "der Hintern versohlt" wird. Heute Abend wäre es auf Borkum wieder so weit - wie geht man auf der Nordseeinsel damit um?
So'n Schiet, wie man in Norddeutschland sagen würde: Der "Klaasohm" genannte Brauch, eine Nacht vor Nikolaus eine Frau mit einem Kuhhorn "ein bisschen zu verdreschen" erfährt aktuell so viel Interesse, dass die Angelegenheit nicht mehr unter den Teppich zu kehren ist. Das Entsetzen - außerhalb der Insel Borkum - ist groß. Die Borkumer selbst reagieren größtenteils mit Schulterzucken ("War schon immer so", "Ist Tradition") oder auch Aggressivität ("Verpisst euch, das geht euch nichts an"). Letzteres, verpisst euch, ist natürlich nicht so ganz ernst gemeint, denn immerhin kommen jährlich Hunderttausende Erholungssuchende auf die gut durchlüftete Nordseeinsel, um ihre Sandburgen zu bauen und Fischbrötchen zu inhalieren.
Aber am 5. Dezember, wenn kaum ein Nichteinheimischer mehr auf Borkum ist, da wäre man allerdings gern, wie bisher, unter sich geblieben. Nun machen die sozialen Medien und Handyvideos der ganzen Sache einen Strich durch die Rechnung. Immerhin reagieren die verantwortlichen Insulaner mit dem Versprechen, das traditionelle Frauen-Verkloppen in Zukunft zu lassen.
Damit "Klaasohm" den 5000 Borkumern als höchster Feiertag und identitätsstiftendes Fest erhalten bleibt, "muss der Bekanntheitsgrad gering gehalten werden" so steht es bis jetzt in den Statuten des Vereins "Borkumer Jungens Ev. 1830". Und ja, bei einem Fest im öffentlichen Raum darf grundsätzlich gefilmt und fotografiert werden. Auch die Veröffentlichung von Bildern eines bestimmten Ortes, auf dem die Person nur am Rande als sogenanntes "Beiwerk" zu sehen ist, ist erlaubt. Ebenso wird es bei Versammlungen gehandhabt, also zum Beispiel bei einem Karnevalsumzug oder einer Demonstration. Aber beim Klaasohmfest? Laut Recherchen des Reportageformats STRG_F findet selbst der Bürgermeister von Borkum, Jürgen Akkermann, dass das Klaasohmfest ein traditionelles Fest für Insulanerinnen und Insulaner ist, welches sich wie viele regionale Traditionen Auswärtigen nicht ohne weiteres erschließt. "Daher wird es nicht beworben und wir unterstützen die Erwähnung in den Medien nicht," ergänzt er.
Ein Bericht des ARD-Magazins "Panorama" über die Tradition, deren Bestandteil auch das Schlagen von Frauen mit Kuhhörnern ist, hatte bundesweit für Empörung gesorgt. In dem Beitrag berichten Borkumerinnen und Borkumer anonym von aggressiven Übergriffen. Ein Team filmte im vergangenen Jahr, wie Frauen bei dem Fest auf der Straße von "Fängern" festgehalten werden und ihnen die sogenannten Klaasohms mit einem Kuhhorn auf den Hintern schlugen.
Zu spät. Denn zwischen "nicht unterstützen und aktiv daran hindern, über etwas zu berichten, was sich im (überwiegend) öffentlichen Raum abspielt", befindet sich auf Borkum eine Menge Spielraum. Hinter der Bezahlschranke der "Borkumer Zeitung" steht über die Veranstaltung im Jahr 2022, dass "Klaasohm" "wieder ein Publikumsmagnet" gewesen sei. Das klingt doch verlockend. Auch für Touristen. Damit gemeint sein können aber nur die Borkumer selbst, denn jeder Touri hätte das Spektakel gefilmt und auf TikTok & Co. verbreitet. Muss man auf Borkum vor Betreten der Insel im Dezember also bald Handy und Laptop abgeben?
"Groß und sportlich"
"Mama, du kommst jetzt mit", sagt ein junger Mann zu einer Frau mit verpixeltem Gesicht, die gerade mit einem RTL-Filmteam über den Brauch spricht. Sie erklärt, dass wenn die Gepflogenheiten die Insel verlassen würden, man dann den Brauch nicht mehr so feiern könnte, aber beenden kann sie ihren Satz nicht, denn der Sohn zieht seine Mutter an der Jacke weg vom Reporter, rein ins Geschehen. Nein, begeistert ist man nicht, wenn Außenstehende da filmen und Insider Auskunft geben wollen.
In der Bachelor-Arbeit "Traditionsbedingte Gewalt gegen Frauen und Mädchen am Beispiel von 'Klaasohm' auf Borkum" von Lisanne Kassem ist nachzulesen: "Um vom Vereinsvorsitz als 'Klaasohm' auserkoren zu werden, sollte der Borkumer Junge vor allem Einsatz für den Verein zeigen und möglichst groß und sportlich sein. Jeder "Klaasohm" trägt weiße Leinen- oder Baumwollkleidung, mit roten Streifen und Absätzen, schwarze Stiefel und einen sehr hohen, massiv bedrohlich aussehenden Helm, der meist mit hellem Kuh- oder Schaffell bezogen ist. Darauf ist ein Gesicht genäht, bestehend aus runden Augenausschnitten, einer roten Nase und diversen Tierkörperteilen, wie Möwenflügel, Pferdehaare, Schweineohren, ausgestopfte Seehundköpfe, Fuchsschwänze und Kuhhörner. (...)"
Die "Klaasohmen" kämpfen miteinander, es steht jedoch von vornherein fest, dass der größere gewinnt. Immer, selbst, wenn der kleinere eigentlich gewonnen hat. Was das mit Männern macht, die theoretisch also ein "Klaasohm" sind, praktisch aber nie gewinnen werden, weil sie "klein" sind, das möchte man/frau sich eigentlich auch gar nicht vorstellen. Der Größere darf auf jeden Fall auch immer zuerst schlagen. So doll, dass Frauen und Mädchen tagelang nicht sitzen können. Nach anonymen Aussagen von Borkumer Männern "macht einen das schon stolz irgendwie".
Angst vor den Folgen
Die "Tradition" sollte ein Geheimnis bleiben, eines, das laut Aussagen der Mitmachenden die Gemeinschaft stärkt. Das für Außenstehende Absurde daran: Das sagen nicht nur die Männer, die den Frauen mit ihren Kuhhörnern die Hintern versohlen, das sagen viele der Frauen ebenfalls. "Lass sie doch, das ist der einzige Tag im Jahr, an dem sie die Hosen anhaben", schwingt da mit bei den Frauen, die unter anderem von einem RTL-Team interviewt wurden. Die meisten wollen anonym bleiben, egal was sie sagen. Auch die, die über ihre Schmerzen reden, haben Angst vor Restriktionen gegen ihre Borkumer Familien.
Aber wäre es nicht viel vernünftiger, auch für die Gemeinschaft und den Zusammenhalt, wenn Frauen und Männer gemeinsam "die Hosen anhaben"? Wenn Frauen Männern jedoch diesen einen Tag "gönnen", einen Tag, der mit Gewalt verbunden ist - was setzt das für Zeichen? "Liebes Tagebuch, heute durfte ich der Petra mal so richtig einen überziehen mit dem Kuhhorn. Die Abdrücke wird man noch Tage sehen können. Das war ein schöner Tag, gute Nacht, ich freu' mich schon aufs nächste Jahr, dein Heiner."

Auf Borkum erzählt man sich, dass der Brauch auf die Zeit der Walfänger auf der Insel zurückgeht. Die Männer seien traditionell am Jahresende nach einigen Monaten auf See zurück auf die Insel gekommen und hätten mit dem Brauch klargemacht, dass nun wieder sie - und nicht die Frauen - das Sagen hätten.
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Und dazwischen? Was ist mit den Männern, die Frauen oder Mädchen eventuell gar nicht wehtun wollen? Was ist mit einem Mann, der keinen Bock hat, seine oder andere Frauen mit einem Kuhhorn zu verdreschen? Ist der ein Weichei? Und was macht das mit diesen Männern? Werden die in der Borkumer Gesellschaft als komplette Loser angesehen?
Wenn man nicht von Borkum kommt, dann kann man das eben, laut Borkumer Aussagen, nicht verstehen. Und natürlich kann man nicht mitreden, wenn man keine Ahnung hat. Wenn man sich aber informieren will und das nicht möglich ist, dann ist das kontraproduktiv. Und mal nebenbei: Es ist richtig, wir leben in einer Welt, in der Traditionen und Heimat uns ein Gefühl von Stärke und Sicherheit geben können. Aber nicht jede Tradition ist toll. Frauen zu schlagen ist unterirdisch, mit oder ohne Tradition.
Dann geh' doch!
"Nahezu jeder – männliche – auf Borkum geborene Bewohner ist Mitglied im Verein, ab 16 Jahren bis zur Heirat. Die Kämpfe darum, wer Klaasohm wird, werden streng geheim abgehalten, Fotos und Filmaufnahmen verboten. Niemand wird später darüber sprechen. Es gibt Rituale, die seit Generationen überdauert haben. Wann genau der Brauch entstanden ist, lässt sich kaum sagen", so Ethnologe Thomas Hauschild. Der Brauch wird 1897 im Buch "Borkum einst und jetzt" erwähnt. Der "Borkumer Jungensverein" dazu: "(...) Der Borkumer Junge, der Mitglied im Verein werden möchte, sollte möglichst auf Borkum geboren sein - sowie auch seine Eltern." So wird die Tradition am einfachsten weitergegeben. Beim Klaasohm gibt es weder Reden noch Lieder, nur ein paar "gruselig" Verkleidete. Und die Jagd auf Frauen: "Junge Frauen, die sich in dieser Nacht aus dem Haus wagen, werden gefangen und mit einem Kuhhorn verhauen. Die Kinder aber werden gut behandelt und bekommen Moppen, ein hartes Honigkuchengebäck, geschenkt", heißt es. Höhepunkt sei ein Sprung der Klaasohms von einer meterhohen Säule in die Menschenmenge.
"Brauchtum und Tradition können und dürfen niemals Rechtfertigung für Gewalt an Frauen sein", sagt Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens. Auch die Staatssekretärin im Sozialministerium, Christine Arbogast, sagt, dass Brauchtum und Traditionen grundsätzlich einen hohen Stellenwert hätten. Sie seien zu respektieren und zu schützen. "Aber es ist klar, dass alles da sein Ende findet, wo sich Frauen unsicher fühlen und Angst vor körperlicher Züchtigung haben." Und sie fügt hinzu: "Wer sich den Hintern mit einem Horn versohlen lassen möchte, darf das tun. Wer das nicht möchte, muss aber auch respektiert werden. An keinem Tag im Jahr darf es so sein, dass Frauen aus Angst vor Hieben zu Hause bleiben und sich nicht auf die Straße trauen." Bezogen auf die Aussage eines Borkumers: "Frauen, die sich wehren, würden einfach 'mehr' festgehalten werden", ist das auch dringend ratsam, zu Hause zu bleiben.
Ehe man also abschafft, Frauen zu verhauen, sollte man auf Anraten des Bürgermeisters der Stadt Borkum der Sache lieber aus dem Weg gehen - der parteilose Jürgen Akkermann schreibt am 29. Dezember 2023 in einer Mail: "Wenn man für sich das Klaasohmfest ablehnt, ist das völlig in Ordnung. Niemand ist gezwungen, teilzunehmen. Das Klaasohmfest findet einmal im Jahr statt und ist auf wenige Stunden an diesem Tag und auf wenige Straßenzüge beschränkt. Es ist ohne Weiteres möglich und zumutbar, der traditionellen Veranstaltung aus dem Weg zu gehen und fernzubleiben, ohne die Insel verlassen zu müssen." Diese Bewertung wird von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der Insel geteilt."
Schlussnotiz

Akkermann bemängelt, die Berichterstattung sei tendenziös und unseriös. "Die Videosequenz zeige ein Fehlverhalten Einzelner und könne "keinesfalls als Beleg dafür herhalten, dass die Insel Gewalt toleriert (...)."
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Bräuche, die mit Gewalt spielen, gibt es viele. In Teilen Österreichs etwa den "Krampus", im Allgäu das "Klausentreiben", wo, ähnlich dem "Krampus", Ruten zum Einsatz kommen. Die Österreicher allerdings zeigen ihren Brauch der Öffentlichkeit, haben "die Medien gern an ihrer Seite". Auch der Alpen-Teilzeitgehilfe vom Nikolaus jagt, vorwiegend Kindern, Angst ein. Und auch hier darf um sich geschlagen werden: zwar nicht mit Kuhhörnern, aber mit Reisig. Und eigentlich nur unters Knie, doch laut Recherchen des "Zeit"-Magazins "passiert eigentlich immer was": Hämatome, Platzwunden, Schürfungen, Knochenbrüche, Blutergüsse.
Sie sagte: "Manchmal, aber nur manchmal
Haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern
Immer, ja wirklich immer
Haben Typen wie du was auf die Fresse verdient!"
("Die Ärzte")
Vorschau
Die Polizei kündigt an, bei dem umstrittenen Nikolausbrauch von Donnerstag auf Freitag mit mehr Kräften im Einsatz zu sein. Dazu werde die örtliche Polizeidienststelle auf der Insel am Tag der Veranstaltung personell "deutlich verstärkter präsent sein", um einen friedlichen Verlauf zu gewährleisten. "Sollten der Polizei etwaige Straftaten bekannt werden, werden diese wie in der Vergangenheit konsequent und ganzheitlich verfolgt", heißt es weiter. Und der "Borkumer Jungensverein" wolle den Brauch des Schlagens vollständig abschaffen.
Noch einmal die Innenministerin Niedersachsens: "Die Berichterstattung über das 'Klaasohm'-Fest auf Borkum zeigt, dass längst nicht alle betroffenen Frauen mit diesem gewalttätigen Brauch einverstanden waren und es ihnen dennoch nicht leichtgefallen ist, das auch so zu artikulieren." Es sei daher "folgerichtig und überfällig", dass die Veranstalter angekündigt hätten, diesen Teil des Festes abschaffen zu wollen.
Und der Verein Borkumer Jungens teilt mit, der Verein fühle sich verpflichtet, das Fest transparenter zu gestalten, Missverständnisse aufzuklären und die Wogen zu glätten. "Wir verstehen die Kritik an den in der Reportage gezeigten Szenen und fühlen uns verpflichtet, weitere Veränderungen herbeizuführen."
Quelle: ntv.de, mit dpa