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Schadet Protest dem Ziel? "Das ist das Dilemma der Letzten Generation"

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Die Aktivisten planen, den Verkehr in Berlin die ganze Woche lang immer wieder lahmzulegen.

Die Aktivisten planen, den Verkehr in Berlin die ganze Woche lang immer wieder lahmzulegen.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Die Aktivisten der Letzten Generation kleben auf den Straßen der Hauptstadt, die sie im großen Stil lahmlegen wollen. Damit machen sie sich kaum Freunde. Im Gegenteil: Immer lauter wird der Vorwurf, die Klimaaktivisten spalten die Gesellschaft und schaden so dem eigentlichen Ziel. Stimmt das?

Die Letzte Generation stört. Die Klimaaktivisten belagern Autobahnen und Flughäfen und durchkreuzen so Geschäfts- sowie Friseurtermine, manchmal gar den geplanten Urlaubsbeginn. Ab heute soll auf diese Weise die gesamte Hauptstadt lahmgelegt werden - bereits am Vormittag klebten die ersten Aktivisten auf den Straßen Berlins. Mit Aktionen wie diesen machten sich die Aktivisten in den vergangenen Monaten äußerst unbeliebt: 79 Prozent der Menschen lehnen die radikalen Proteste der Gruppe ab, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa jüngst ergab. Im Osten sind es sogar 90 Prozent.

Auch in der Politik macht sich die Letzte Generation mit ihren Protesten alles andere als Freunde. Während sich Union und FDP mit historischen Extremvergleichen überbieten - da wird mal vor einer Klima-RAF gewarnt, dann an die Straßenschlachten der Weimarer Republik erinnert - kommt auch von den Grünen und jüngst sogar aus den Reihen von Fridays For Future deutliche Kritik. Ihr Argument zielt dabei in dieselbe Richtung: Die Aktionen der Letzten Generation spalten die Gesellschaft. Dies leiste keinen Beitrag zum Klimaschutz, im Gegenteil: Es schade dem eigentlichen Zweck.

Reagieren Menschen auf störenden Protest tatsächlich mit einer Abwendung vom eigentlichen Thema? Dies untersuchte der britische Psychologe Colin Davis von der Universität Bristol. Die ersten Beobachtungen überraschen wenig: Aktivisten, die extreme Aktionen durchführen, werden im Vergleich zu gemäßigteren Protestierenden oft als unmoralisch wahrgenommen. Seine Probanden empfanden weniger emotionale Bindung zu und eine geringere Identifikation mit den radikaleren Aktivisten. Deutlich interessanter ist jedoch das Studienergebnis: Die fehlende positive Einstellung gegenüber den Protestierenden habe, so Davis, keinen Einfluss auf die Unterstützung ihrer Forderungen. "Es gibt keine zwingenden Beweise dafür, dass gewaltloser Protest kontraproduktiv ist."

Bei den Zielen sind sich alle einig

Der Letzten Generation geht es, ganz grundsätzlich, um effektiven Klimaschutz. Dafür müsste sich die aktuelle Klimapolitik radikal ändern. Erste Maßnahmen der Regierung sollten daher, so fordern es die Aktivisten, ein Tempolimit, die Verlängerung des 9-Euro-Tickets sowie die Einrichtung eines Klimarats zur Beratung der Politik sein. Ob diese Ziele durch radikale Protestformen tatsächlich beeinflusst, gar vereitelt werden, darüber lasse sich zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren, sagt der Protestforscher Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung zu ntv.de. Auch er ist sich jedoch sicher: "Die Kritik am Protest der Letzten Generation führt nicht dazu, dass die Menschen die Klimakrise weniger ernst nehmen."

Dies spiegeln aktuelle Umfragen wider. Trotz massiver Störung durch die Klimaaktivisten empfinden die Menschen in Deutschland den Klimawandel derzeit als wichtigstes Problem, so eine Umfrage der ARD. 44 Prozent aller Befragten geht es - ähnlich wie den Klimaaktivisten - in der Klimapolitik deutlich zu langsam. Auch bei konkreten Forderungen gibt es trotz blockierter Straßen, verpasster Termine und dem stundenlangen Ausharren im eigenen Fahrzeug kaum Diskrepanzen zwischen der Letzten Generation und der Bevölkerung. So sprechen sich die Mehrheit der Befragten verschiedener Studien etwa immer wieder für die Einführung eines Tempolimits aus.

"Das ist das Dilemma der Aktivisten der Letzten Generation", sagt Teune. Die meisten Menschen in Deutschland stehen hinter ihren Forderungen - ob mit oder ohne Protest. "Das hat jedoch nichts daran geändert, dass es an der Umsetzung hapert." Alles, was bisher stattgefunden hat, so der Experte, ob Massenproteste oder das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, habe nicht zu einem Richtungswechsel geführt - "trotz aller Dringlichkeit". Um darauf aufmerksam zu machen, habe sich die Letzte Generation nun für eine disruptive - eine störende - Form der Auseinandersetzung entschieden.

Die "vergiftete Atmosphäre"

Wobei es sich im historischen Vergleich immer noch um eine milde Form des Protests handelt. Die Letzte Generation lehnt jede Form der Gewalt klar ab - "das sah in der Geschichte des Protests der Bundesrepublik schon ganz anders aus", sagt Teune. "Und da stand immer deutlich weniger auf dem Spiel." Gerade vor diesem Hintergrund sei die enorme öffentliche Debatte über die Protestform erstaunlich. "Es besteht ein Missverhältnis", so der Experte. "Und zwar zwischen dem, was die Aktivisten auf der Straße machen und der Skandalisierung und Kriminalisierung dessen."

Teune spricht von einer "vergifteten Atmosphäre", die sicherlich auch durch bereits erwähnte politische Äußerungen, aber auch mediale Schlagzeilen angefacht worden sei. So titelt die größte Boulevard-Zeitung des Landes beinahe im Wochentakt mit der "Propaganda von Klima-Extremisten" oder dem "Klebe-Wahnsinn" der "Klima-Chaoten".

Immer öfter entlädt sich die aufgeheizte Debatte. "Verpisst euch von der Straße" und "Geht lieber erst einmal arbeiten" gehören längst zum Standardrepertoire der Reaktionen auf die Blockaden, immer öfter verlieren einzelne Fahrer die Beherrschung. Mit meist hochrotem Kopf knallen sie dann die Türen ihres zwangsweise gebremsten Kleinbusses oder Opel Corsas und versuchen die Aktivisten vom Asphalt zu zerren. Einem LKW-Fahrer in Hamburg reichte dies vor etwa vier Wochen nicht, um seine Wut zu bändigen. Ihm rutschte zusätzlich der Fuß aus - der bereits am Straßenrand liegende Aktivist bekam einen heftigen Tritt in die Magengrube.

Die "Theorie der radikalen Flanken"

Auf der Straße kommt es zu aggressiven Ausfällen, in Smalltalks und Talkshows wird oft über die Grenzen der Demokratie und härtere Strafen diskutiert, wenn es um die Letzte Generation geht. Und das, obwohl ein großer Teil Deutschlands durchaus hinter den Zielen der Aktivisten steht. Teune sieht darin einen Ausdruck der Realitätsverweigerung: "Wir wissen alle, dass wir nicht so weiterleben können, aber wir wollen nicht ständig daran erinnert werden." Das Interessanteste an der Debatte über die Proteste der Letzten Generation sei es doch, so der Protestforscher, "dass wir dies gerade nicht zum Anlass nehmen, um über Klimapolitik zu sprechen".

Tatsächlich geht es in Live-Schalten, Online- und Fernsehbeiträgen der vergangenen Wochen fast ausschließlich um Staus, um das Werkzeug, mit dem Aktivisten vom Asphalt geschnitten werden und Ermittlungen - sei es gegen klebende Aktivisten, tretende Fahrer oder Polizisten, die bei der Anwendung von Schmerzgriffen gefilmt werden. Für den britischen Psychologen Davis ist das kein Nachteil. Der Protest spiele immerhin eine Rolle bei der Festlegung der Tagesordnung, schreibt er in seiner Studie. Er lege vielleicht nicht fest, was die Menschen denken sollen, beeinflusse aber, worüber sie denken. Anders gesagt: Die Menschen mögen "den Boten erschießen", so der Wissenschaftler. Aber sie hören - zumindest manchmal - die Botschaft.

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Und noch etwas können radikale Proteste - trotz all der Ablehnung in der Gesellschaft - erreichen. So kann eine extremere Protestbewegung positive Effekte auf eine gemäßigtere Gruppe derselben Bewegung haben, sagte der Sozialpsychologe Brent Simpson gegenüber der Deutschen Welle. Laut dieser "Theorie der radikalen Flanken" kann der zivile Ungehorsam der Letzten Generation also dazu führen, dass die Aktionen und Forderungen von Organisationen wie etwa Fridays For Future attraktiver werden. "Infolgedessen steigt die öffentliche Unterstützung für diese Gruppen", bilanzierte Simpson.

Dass die Letzte Generation die Nerven der Politik, der Verwaltung und vor allem der Gesellschaft strapaziert, ist kaum zu leugnen. Auch wird aus ihrer Gruppierung angesichts der großen Ablehnung kaum eine Massenbewegung werden. Allerdings gibt es auch keine Hinweise darauf, dass sie die Menschen beim Thema Klimaschutz vergraulen und so dem eigentlichen Ziel schaden. Im Gegenteil: "Die Letzte Generation hat es geschafft, dass wir an der Auseinandersetzung mit dem Thema nicht mehr vorbeikommen", sagt Teune. Nun lasse sich Klimaschutz nicht mehr hinter die Coronakrise oder den Ukraine-Krieg schieben. "Dafür, dass es nur rund 1000 Aktivisten sind, ist das ein großer Erfolg."

Quelle: ntv.de

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