"Die stärkende Kraft des Erinnerns" Ein Tsunami-Überlebender erzählt
26.12.2014, 12:19 Uhr
Ben Atréu Flegel kann heute ganz offen über das Erlebte sprechen.
(Foto: dpa)
Den ganzen Tag mit den Großeltern am Strand liegen, während in Deutschland der Winter tobt: Viel besser als Ben kann man seine Weihnachtsferien kaum verbringen. Dann kommt die Welle - und ändert alles.
Ein Handtuch ist es, dem Ben Atréu Flegel mit großer Wahrscheinlichkeit sein Leben verdankt. Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004, als der damals 15-Jährige noch einmal schnell in den Bungalow der Ferienanlage zurückeilt, um sich das vergessene Badeutensil zu schnappen - seine Großeltern liegen da schon längst im Sand von Khao Lak. Dass eine gigantische Welle den traumhaften Strand innerhalb von Sekunden in die thailändische Version von Dantes Inferno verwandelt, bekommt Flegel erst mit, als sie auch ihn erwischt.
Nicht viele Menschen, die den vernichtenden Tsunami überlebt oder ihre Freunde, Ehepartner, Kinder, Eltern verloren haben, wollen oder können über das Furchtbare reden. Flegel will es. Aber der heute 25-Jährige macht zugleich klar, dass das, was er erlebt hat, eigentlich unsagbar ist.
"Hilf dir selbst"
Wie einen Film spult der junge Mann die Ereignisse ab: Die erste Welle schlägt ihn gegen die Wand, Möbel schwimmen auf ihn zu. "Das Wasser stieg bis zum Hals, ich holte Luft und tauchte durch die Möbel und Tresore, dann kam die zweite Welle." Die Welle schleudert ihn ins Badezimmer. Als das Wasser sinkt, kann sich Flegel kaum noch auf den Beinen halten: Er hat ein großes Loch im Knie, ein Stück Fleisch vom Fuß ist abgerissen.
Was dann folgt, zeigt, wie dünn der Lack der Zivilisation ist, den Katastrophen dieser Größenordnung problemlos abtragen: Rund 50 Überlebende aus dem Hotel machen sich ins Landesinnere auf. Der Junge schließt sich der Gruppe an, ist aber zu schwach, um sich durch den hüfthohen Schlamm zu kämpfen. "Ich schrie nach Hilfe, einige drehten sich um, der Pulk ging weiter." Ein Mann ruft ihm zu: "Hilf dir selbst." Irgendwie schafft es Flegel trotz hohen Blutverlusts auf einem Lastwagen ins Krankenhaus. Er wird nach Bangkok geflogen, kann seine Eltern anrufen und ist bereits wenige Tage nach der Katastrophe wieder in Deutschland. Flegels Großeltern aber sind fort. Er wird sie nie wiedersehen.
"Als ich eingeklemmt war und das Wasser mir bis zum Hals stand, schrie mein ganzer Körper: Du willst leben!", sagt Flegel. "Dieser Drive hat mich nicht verlassen." Er habe heute "weder Traumata noch Alpträume". Und doch merkt man, welch große Rolle der Tsunami für sein weiteres Leben spielt.
Sprache wird das zentrale Thema für Flegel. Er studierte Literatur und Philosophie, arbeitet an literarischen Projekten. "Wie kann ich diese Geschichte erzählen?", ist Flegels große Frage. Heute, am 10. Jahrestag des Tsunamis, versucht er es in Khao Lak mit einem Vortrag. Der Titel ist Programm: "Die stärkende Kraft des Erinnerns."
Quelle: ntv.de, jve mit dpa