Epidemiologe im Interview "Es muss Restriktionen für Nichtgeimpfte geben"
06.08.2021, 15:59 Uhr
Epidemiologe Ulrichs appelliert an alle, die vierte Welle flach zu halten: durch Masken, Abstand, Lüftungskonzepte, Impfen - und Restriktionen.
Die gegenwärtige Entwicklung der Inzidenz deutet für Epidemiologe Ulrichs auf schnell steigende Infektionszahlen in den kommenden Wochen hin. Doch wegen des Impffortschritts wird es weniger schwere Fälle geben. Im Kampf gegen das Virus setzt er weiter auf die bewährten Mittel - und Restriktionen für Ungeimpfte.
ntv: Die Inzidenzen steigen weiter an, sehr viel früher und schneller im Vergleich zum vergangenen Sommer, obwohl gut die Hälfte der Bevölkerung zweifach geimpft ist. Wie kann das sein?
Timo Ulrichs: Ein erheblicher Anteil ist wohl der Delta-Variante zuzuschreiben, die wesentlich ansteckender ist. Da reicht schon ein Vorbeigehen, auch an der frischen Luft. Das sind Übertragungswege, die wir so noch nicht hatten, auch vor einem Jahr noch nicht. Und das trägt dazu bei, dass alle, die noch empfänglich sind für das Virus, dieses dann auch bekommen. Das sind jetzt vor allem die etwas Jüngeren und alle Ungeimpften.
Was bedeutet dies für eine vierte Welle?
Es ist damit zu rechnen, dass die Infektionszahlen innerhalb von Tagen und Wochen in einen steilen Anstieg übergehen - steiler als in der zweiten und dritten Welle. Und das bedeutet auch, dass die Zahlen ziemlich hoch gehen können. Zugleich heißt das aber nicht automatisch, dass Krankenhauseinweisungen, Intensivbettenbelegungen und die Todesfälle ebenso hoch werden müssen. Denn es sind schon viele Menschen, gerade auch Ältere, geimpft. Wenn sich aber viele Menschen neu infizieren, wird dennoch ein Teil schwere Covid-19-Verläufe entwickeln. Wir sind mit dem Impfen noch nicht so weit, dass wir diese Zahl recht klein halten können.
Was ist denn der Unterschied zwischen einer allgemeinen Impfpflicht für alle oder Auflagen und Restriktionen für Ungeimpfte?
Hätten wir eine Impfpflicht, würde das bedeuten, dass alle sich impfen lassen müssen. Das ist schon ein ziemlich starker Einschnitt. Lassen wir es aber so wie jetzt, ist es eben eine freiwillige Entscheidung jedes Einzelnen. Allerdings muss man dann, und das wäre die Konsequenz, auch mit den Folgen leben. Und das heißt eben, dass man nicht wie die Geimpften aus der Mühle der Maßnahmen gegen die Virusverbreitung rauskommt, sondern drin bleibt und weitere Nachteile in Kauf nehmen muss. Dazu gehört auch, dass die bisher kostenlos angebotenen Tests kostenpflichtig werden. Denn es gibt keinen Grund, weshalb diese die Allgemeinheit noch tragen sollte.
Aber auch doppelt Geimpfte können sich durchaus wieder anstecken und auch infektiös sein. Trotzdem die Restriktionen für Ungeimpfte?
Ja, es gibt durchaus die Möglichkeit, dass das Virus noch mal infizieren kann. Doch es ist nicht mehr in so großen Mengen im Rachen vorhanden und kann dann nicht mehr so gut weitergegeben werden wie bei Ungeimpften. Und es verursacht, das ist ganz wichtig, auch keine schwere Covid-19-Erkrankung mehr bei den Geimpften. Das heißt, mit der Impfung ist man ziemlich sicher. Das ist der entscheidende Vorteil, deswegen machen wir das Ganze ja.
Am Dienstag trifft sich die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Was sollte vor diesem Hintergrund denn dabei beschlossen werden?
Es muss eine Initiative her, damit sich noch mehr Menschen impfen lassen. Das ist derzeit das Allerwichtigste. Mit dem Durchimpfen lässt sich die vierte Welle einigermaßen flach halten. Wir müssen sehen, dass wir Kitas und Schulen schützen, damit einigermaßen ordentlicher Unterricht stattfinden kann, ohne das Risiko einer großen Virusverbreitung und ohne das Risiko, Schulen wieder dichtmachen zu müssen. All das bedeutet, dass es gerade für Nichtgeimpfte entsprechende Restriktionen geben muss, damit die nicht noch weiter das Virus verbreiten.
Statistiken zeigen, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler an den Neuinfektionen extrem hoch ist und auch immer weiter steigt. Welcher Handlungsbedarf besteht da ganz konkret?
Wir müssen diese schnelle Weiterverbreitung eindämmen durch klassische Maßnahmen, die wir schon kennen: Abstand halten und Masken tragen. Das hilft auch gegen die Delta-Variante. Es gab die Sommerferien, in denen man sich gut vorbereiten konnte, etwa mit Luftfilteranlagen. All dies ist wichtig, um einen geordneten Start des Schulbetriebs sicherzustellen. Und die allerwichtigste Voraussetzung - man kann es nicht oft genug betonen - ist eben das Impfen. Das gilt auch für die Familien der Schülerinnen und Schüler. Denn dann ist das Risiko gering, dass die Kinder das Virus in die Schule bringen.
Die meisten Schüler und Schülerinnen sind noch nicht geimpft, während man in der Charité schon mit der Drittimpfung des Personals beginnt. Ist das gerechtfertigt?
Beim Personal, das sind ja meist jüngere Leute, ist das noch nicht notwendig. Aber man sollte sich genau angucken, wie die Situation in Alten- und Pflegeheimen ist, also in den älteren Altersgruppen. Da wäre es gut sicherzustellen, dass nicht noch mal Impfdurchbrüche auftreten. Je höher das Lebensalter ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Immunsystem in der Gesamtleistungsfähigkeit nachlässt. Deswegen kann es hier sinnvoll sein nachzuimpfen. Bezogen auf die ganze Bevölkerung wäre das auf jeden Fall zu viel, weil wir noch gar nicht wissen, wie lange bei Immungesunden so eine Impfung wirken kann. Ich gehe eher davon aus, dass das Jahre sind. Außerdem müssen wir weltweit impfen, damit das Virus nicht in großen Mengen zirkulieren und neue Varianten hervorbringen kann. Deshalb müssen wir den Impfstoff, der bei uns übrig ist, möglichst schnell in andere Länder bringen.
Mit Timo Ulrichs sprach Katrin Neumann
Quelle: ntv.de