Intensivarzt Janssens bei ntv "Es reicht nicht, dass Lauterbach Corona in die Knie zwingt"
08.12.2021, 16:38 Uhr
ntv-Moderatorin Doro Steitz im Gespräch mit Intensivmediziner Uwe Janssens
Mit der neuen Bundesregierung verbindet auch Intensivmediziner Uwe Janssens Hoffnungen. Er wünscht sich im ntv-Interview neben der raschen Bekämpfung der Corona-Pandemie eine "konsequente Reorganisation des gesamten Gesundheitswesens".
ntv: Die Zahl der Neuinfektionen und die Sieben-Tage-Inzidenz verharren auf sehr hohem Niveau. Was bedeutet das für die Krankenhäuser und die Intensivstationen im Moment?
Uwe Janssens: Bei weiterhin sehr hohen Infektionszahlen haben wir jeweils zehn bis zwölf Tage später mit der Aufnahme dieser Patienten zu rechnen. Bei 50.000, 60.000 oder knapp 70.000 Neuinfektionen pro Tag sehen wir dann zeitversetzt etwa 300 bis 400 Neuaufnahmen auf Intensivstationen. Wir haben die letzten Tage immer im Durchschnitt 300 neue Covid-19-Patienten gehabt, allerdings auch leider Gottes viele verstorbene Patienten sowie entlassene Patienten, sodass die Nettobilanz pro Tag bei circa 100 liegt. Man kann sich ausrechnen: in zehn Tagen sind das netto 1000 Patienten mehr und dann landen wir bei den 6000 angenommenen Patienten um Weihnachten rum.
Was bedeutet das denn - 6000 Intensivpatienten, ausgerechnet über Weihnachten in den Kliniken?
Das bedeutet ein unruhiges Weihnachtsfest und das kann man fast gar nicht "Fest" nennen, das wäre in diesem Zusammenhang fast zynisch zu sagen. Mir tun jetzt schon die Mitarbeitenden leid. Wir werden auch unsere Pläne darauf abstimmen müssen. Es ist, Gott sei Dank, so, dass um die Weihnachtsfeiertage herum das operative Programm reduziert wird und dadurch die Zusatzbelastung der Intensivstationen abnimmt.
Seit heute ist die neue Bundesregierung im Amt, mit Olaf Scholz als Kanzler und Karl Lauterbach als Gesundheitsminister. Was müsste die Regierung jetzt tun in der Corona-Krise?
Wir brauchen jetzt eine tatkräftige Bundesregierung, die schnell Beschlüsse umsetzt, die nicht zaudert, sondern handelt. Und wir brauchen mittel- und langfristig wirklich eine konsequente Reorganisation des gesamten Gesundheitswesens. Es nützt jetzt nichts, nur an der Schraube der Pflegekräfte zu drehen. Wir brauchen gerade in diesem Bereich eine Stärkung der ambulanten und stationären Pflege. Eine Riesenaufgabe liegt vor Herrn Lauterbach und es wird nicht reichen, dass er das Coronavirus in die Knie zwingt. Nein, er muss auch das Gesundheitssystem neu aufstellen und ich bin mir sicher, dass er das auch vorhat.
Es ist ein viertes Medikament gegen Covid-19 in der EU zugelassen worden, ein Arthritis-Medikament. Können Sie uns erklären, warum ein Mittel, das gegen Arthritis wirkt, auch gegen Covid-19 eingesetzt wird?
Der Wirkstoff Tocilizumab wird bei chronischen Entzündungen eingesetzt. Und diese Substanz ist in der Lage, die entzündliche Reaktion, die Sars-CoV-2 auslöst, in der Phase, in der die Erkrankungsschwere zunimmt, abzubremsen. Wir setzen dieses Medikament deutschlandweit schon heute Off-Label, also ohne Zulassung für diese Anwendung, ein. Und auch in unserer Leitlinie empfehlen wir das bei Patienten, die Sauerstoff benötigen und schon auf der Intensivstation liegen. Intubierte und beatmete Patienten erhalten das Medikament nicht.
Man hört ja immer wieder, dass viele, auch schwere Operationen verschoben werden müssen, weil die Intensivstationen mit Covid-19-Patienten voll sind. Wie ist das, wenn Sie Patienten das mitteilen müssen? Reagieren die mit Verständnis?
Das ist ganz gemischt. Aber Ärger ist absolut verständlich, dass Patientinnen und Patienten, die lange auf einen Eingriff gewartet haben, jetzt nicht froh darüber sind, dass diese verschoben werden. Operationen, bei deren Verschiebung der Patient Schaden nimmt, werden in der Regel aber nicht verschoben. Wie wohl die gesamten Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem und die Gesundheit der Menschen in der Corona-Pandemie sind, werden wir wahrscheinlich erst in Jahren wissen. Es sind ja nicht nur Operationen verschoben worden, es sind auch Vorsorgeuntersuchungen, Krebsvorsorgeuntersuchungen, Nachsorgeuntersuchungen nach hinten gerückt.
Ist das schon so eine Art Triage durch die Hintertür?
Das ist eine sogenannte weiche Priorisierung. In der Tat erfolgt eine Auswahl, aber eines dürfen wir nicht vergessen: Es sind jetzt nicht nur die Covid-19-Patienten, die schwer erkrankt sind. Alle anderen akut schwer kranken Patienten müssen auch versorgt werden. In Kombination mit den schweren Covid-Erkrankungen setzt das die Notfall- und Intensivmedizin unter einen Druck, den wir im Moment aushalten müssen. Bisher gibt es mit Sicherheit tragische Fälle, die verschoben werden mussten. Mir persönlich sind aber keine Fälle bekannt, dass es tatsächlich zu Todesfällen im Zusammenhang mit solchen Verschiebungen gekommen wäre. Aber wir werden langfristig analysieren müssen, was das für Auswirkungen auf die gesamte Gesundheit der Menschen in Deutschland gehabt hat.
Mit Uwe Janssens sprach Doro Steitz
Quelle: ntv.de