Selbst Opfer und Täter Ex-Kiezgröße im Anti-Mobbing-Kampf
02.03.2018, 11:03 Uhr
Stahl wirbt leidenschaftlich dafür, jungen Menschen Toleranz und Respekt beizubringen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Carsten Stahl wird als Kind gemobbt und gedemütigt. Irgendwann schlägt er selbst brutal zurück. Heute will er Tätern und Opfern helfen. Denn er ist sicher: In jeder Schule gibt es Mobbing.
Wenn man mit Carsten Stahl redet, muss man zusehen, dass man noch zu Wort kommt. Der Berliner ist so voller Energie und Leidenschaft, dass er seinem Gesprächspartner kaum eine Pause lässt. Denn Stahl hat eine Mission: Er will Mobbing bekämpfen.
Der 45-Jährige, der bereits eine kriminelle und eine Fernsehkarriere hinter sich hat, hat für sich 2018 zu dem Jahr erklärt, in dem er dem Mobbing dem Kampf ansagt. In diesen Tagen erscheint sein Buch "Du Täter, Du Opfer". Darin erzählt Stahl die Geschichte seines Lebens. Und das ist die Geschichte eines gemobbten Kindes.
"Als ich zehn war, wurde ich von fünf Jungs verfolgt, der älteste war 15 und die jüngsten waren 13. Über eineinhalb Jahre lang haben die mich immer wieder abgefangen", erzählt er im Gespräch mit n-tv.de. Man spürt, dass er darüber inzwischen schon häufig gesprochen hat und bekommt trotzdem Gänsehaut. Die Jungs seien ihm körperlich komplett überlegen gewesen und drängten ihn eines Tages in eine Sackgasse, an deren Ende für Bauarbeiten eine Grube ausgehoben war.
"Ein Junge hat mich, ohne zu zögern, vor die Brust gestoßen und ich bin drei Meter in diese Grube gefallen. Knapp an Rohren und Steinen vorbei. Ich habe mir den Kopf aufgeschlagen, auf die Zunge und in die Innenseite meiner Wange gebissen und die Rippen gebrochen", erinnert sich Stahl. Doch auch damit sei es noch nicht genug gewesen. Die Jungs stellten sich um die Grube auf und pinkelten auf ihn herunter.
Echt und überzeugend
Wenn Stahl bei seinen Anti-Mobbing-Einsätzen in Schulen unterwegs ist, schildert er das alles, als sei das irgendeinem Jungen passiert. Doch hier angekommen, steht er auf und sagt: "Dieser Junge war ich." In diesem Moment könne er den Unglauben in den Gesichtern der Kinder und Jugendlichen sehen, sagt er. "Ich bin für viele von ihnen ein Fernsehheld, der 115 Kilo wiegt, drei schwarze Gürtel hat und im Fernsehen Böse fängt. Und der sagt, er war Opfer von Mobbing, als er klein und schwach war." OECD-Zahlen von 2017 zufolge wird jeder sechste Fünfzehnjährige in Deutschland regelmäßig in der Schule massiv gemobbt.
Stahl geht mit dieser Erfahrung auf seine Weise um. Heute ist er überzeugt, ohne Hilfe gibt es nur zwei Möglichkeiten: "Entweder das Kind zerbricht oder es lernt, sich zu wehren." Er entscheidet sich für letzteres. Er will sich nie wieder verstecken oder wegrennen. Zunächst schlägt er nur zurück, später wird er selbst zum Täter. Mit 17 gerät er endgültig auf die schiefe Bahn, kommt in Konflikt mit dem Gesetz und der Polizei. Innerhalb weniger Jahre arbeitet er sich in Berlin zur Kiez-Größe hoch und teilt nach Belieben aus, ohne einzustecken.
Erst, als seine völlig unwissende Freundin von einem Konkurrenten attackiert wird und das gemeinsame ungeborene Kind verliert, dämmert ihm, welchen Preis er langfristig für dieses Leben zahlen muss. Weil er nicht auf Kinder und eine Familie verzichten will, kauft er sich frei.
Im Fernsehen stark und unbesiegbar
Stahl startet eine weitere Karriere. Als Schauspieler wird er das Gesicht der Serie "Privatdetektive im Einsatz". Als nach einigen Jahren alle Geschichten erzählt sind, gründet er die Initiative und später den Verein "Camp Stahl“, mit dem er sich für mehr Gewaltprävention einsetzt. Den letzten Ausschlag gibt der Tag, an dem sein gerade erst eingeschulter Sohn aus der Grundschule kommt, mit aufgeplatzter Lippe und blutiger Nase.
Während viele Pädagogen und Sozialarbeiter die Ursachen und Abläufe von Mobbing nur schwer durchschauen, sind die Dinge für Stahl ganz klar. Zum Beispiel die Antwort auf die Frage, warum die Opfer sich niemandem anvertrauen. "Weil die Täter, die sie jeden Tag hauen oder demütigen, ihnen sagen: Wenn Du das den Eltern oder den Lehrern erzählst, dann wird es noch schlimmer. Mir haben sie gesagt, wenn Du das erzählst, dann schneiden wir Deiner Mutter und Deiner Schwester die Kehle durch. Ich hab das geglaubt und nichts erzählt."
Auch deshalb erzählt der 115-Kilomann mit den deutlichen Tätowierungen als erstes seine eigene Geschichte. Um zu zeigen, dass Mobbing jeden treffen kann. Danach seien die Kinder und Jugendlichen bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. "Die Opfer haben den Mut zu reden und werden darin akzeptiert. Und die Täter nehmen wahr, wie verletzend das ist und können erzählen, warum sie das tun", berichtet Stahl über diesen Austausch, den er inzwischen in unzähligen Workshops erlebt hat. Und dann passiere etwas unglaublich Schönes: "Die Täter entschuldigen sich von Herzen."
Problem nicht totschweigen
Mobbing ist eine Gruppendynamik, das wissen die Experten schon länger. Auch dass Schuldzuweisungen und Strafen kaum etwas bringen, ist bekannt. Doch die Kinder und Jugendlichen einzubinden, von denen das Mobbing ausgeht, erweist sich oft als schwierig. Stahl findet, die Täter wurden "zu lange in Watte gepackt". Oft werde dem Opfer empfohlen, die Schule zu verlassen. Dann lernen die Täter: "Jeden, der ihnen nicht passt, machen sie fertig. Und das Problem ist ja nicht weg. Die suchen sich das nächste Opfer, nicht mehr den Jungen mit den roten Haaren, sondern jetzt eben das Mädchen mit der Brille." So komme auch der Täter nicht raus aus der Gewaltspirale.
Er habe beide Seiten von Mobbing erlebt, die Erniedrigung und die Schmerzen des Opfers genauso wie die Brutalität und die Allmachtsfantasien des Täters. Deshalb sei er so überzeugend, wenn er mit den Kindern über das Problem spricht. "Es gibt heute keine Schule, die kein Mobbing-Problem hat und jeder der das leugnet oder runterspielt, lügt aus Angst vor Konsequenzen“, sagt Stahl und wird mit jedem Satz lauter. "Keiner will als Problemschule dastehen, aber das ist unterlassene Hilfeleistung." Eltern und Kinder dürften sich nicht länger beschwichtigen lassen, sondern müssten darauf drängen, dass etwas unternommen wird.
Manche schreiben dann an Stahl und holen sich Unterstützung. Doch ohne Zeit und vor allem ohne Geld ist der Kampf gegen das Mobbing nicht zu gewinnen, da ist sich Stahl sicher. Er arbeitet inzwischen mit allen Parteien zusammen, "außer mit der AfD". Noch im Frühjahr beginnen in Prenzlau, Schmalkalden und Teltow Kampagnen, bei denen jeweils die ganze Stadt in Stahls Konzept einbezogen wird. In mehreren Bundesländern hat er sich Kooperationspartner für seine Camp-Stahl-Stützpunkte gesucht. "Es geht darum in Deutschland einen Stein ins Rollen zu bringen." Sein Traum wäre, dass die Fußball-Nationalmannschaft in Trikots einläuft, auf denen zum Kampf gegen Mobbing aufgerufen wird. Dafür wirbt er voller Leidenschaft. "Glauben Sie, ich lasse mich aufhalten?", fragt er zum Schluss. Es klingt ein bisschen wie eine Drohung, aber Stahl ist ja jetzt einer von den Guten.
Quelle: ntv.de