
Der Whisky von Bercow kostet 29 Pfund.
Jeder weiß, dass Alkohol auch keine Lösung für den Brexit ist. Dass er im britischen Parlament trotzdem in rauen Mengen bestellt wird, mag auch an Parlamentssprecher John Bercow liegen - schließlich ruft er die ganze Zeit "Order, Order!"
Man stelle sich einmal vor, Wolfgang Schäuble wäre nicht nur Präsident des Deutschen Bundestags, sondern auch der Namenspatron einer hochprozentigen Spirituose, die im "Bundestagsshop" neben Bastelbögen, Fahrradklingeln und Kaffeebechern verkauft wird. Zu allem Überfluss würde sich der "Schäuble-Schnaps" während einer Staatskrise besonders gut verkaufen … Im Moment ist beides unvorstellbar: Die Staatskrise. Und der Schnaps.
Nicht so in Großbritannien. Mit jeder neuen Schlammschlacht, die sich die Abgeordneten im Londoner Parlament über den Brexit liefern, spitzt sich die Krise des Vereinigten Königreichs zu. Im Zentrum thront (und steht auch gelegentlich) ein nicht gerade hochgewachsener Mann, der trotzdem alle überragt. Man nimmt ihn unwillkürlich zur Kenntnis - selbst wenn man das politische Theater nur am Rande verfolgt.
Die Rede ist von John Bercow, dem "Speaker of the House of Commons", also dem Sprecher im Unterhaus, der zweiten Kammer im Palast von Westminster. Bercow darf den Abgeordneten das Wort erteilen, sie unterbrechen und tadeln - und weil das mit der parlamentarischen Disziplin so eine Sache ist, brüllt er immer wieder "Order, Order!" durch das Hohe Haus. Man darf verblüfft sein über diese Momente, weil sie in Ton und Stil nicht recht zu seiner ansonsten sehr gewählten und ironischen Wortwahl passt - so dass die Frage zumindest berechtigt erscheint, ob "Order" nicht vielleicht auch eine andere, ebenfalls ironische Bedeutung hat.
Einen kleinen Hinweis hat der Sprecher selbst gegeben: "Herr Abgeordneter! Sie sind jetzt auf der Stelle still oder ich werde Ihnen nahelegen, die Kammer für den Rest des Tages zu verlassen. Dass Sie viel zu leicht zu erregen sind, sollten Sie genauso wissen wie die Notwendigkeit, sich zu beherrschen. Wenn Sie ein Beruhigungsmittel einnehmen müssen, dann sei es so!"
Whisky als Beruhigungsmittel?
Hiermit sind wir schon fast beim Schnaps. Schließlich hat sich die Rolle des britischen Parlamentssprechers in beinahe 800 Jahren nicht nur vom Diener der Krone zum Diener des Parlaments und damit des Volks gewandelt. Sie wurde auch schrittweise reformiert, so dass zum Beispiel der traditionelle Aufzug mit Perücke auf der Strecke geblieben ist - was im Fall von John Bercow optisch kaum ins Gewicht fällt, da er nicht über schütteres Haar klagen kann.
Was nun den Schnaps betrifft, ist eine kleinere Neuerung bemerkenswert, die gewissermaßen das Kleingedruckte in der Job Description des Parlamentssprechers ausmacht: Nach seiner Ernennung muss er einen Lieblingswhisky aus Schottland auswählen, der daraufhin seinen Namen trägt. Der "Speaker‘s Choice" geht zurück auf den Schneider Bernard Wheatherill, der das Amt zwischen 1983 und 1992 bekleidete.
Seine Nachfolgerin Betty Boothroyd, die erste Madame Speaker der britischen Geschichte, nannte ihren Whisky daraufhin - ganz im Ernst - "Order!" Und der Schotte Michael Martin, der auf Boothroyd folgte, war vermutlich der erste Abstinenzler im Amt - also ein sogenannter "teetotaler". Die Auswahl des Whiskys überließ er deshalb Freunden, was dazu führte, dass Flaschen von "Macallan Speaker Martin‘s Single Malt" zu besonderen Sammlerstücken geworden sind. Sie kosten heute bis zu 1000 Pfund!
Speaker-Schnaps für 29 Pfund
John Bercows Wahl fiel vor ziemlich genau zehn Jahren auf ein Destillat des Abfüllers Gordon&MacPhail. Er hat es für diesen Beitrag als "rich, smooth and moderately dry" beschrieben, also als vollmundig, weich und ausgewogen trocken. "Speaker Bercow‘s 10 Year Old Single Malt" wird im Parlamentsshop von Westminster für 29 Pfund verkauft - und hat sich dort seit dem Votum für den Brexit zum kleinen Bestseller entwickelt: Gingen im Jahr 2015 noch 1660 Flaschen über den Tresen, waren es 2017 bereits 1801 und im vergangenen Jahr 1924. Eine beeindruckende Steigerung!
In dieser insgesamt schwer kriselnden Gesamtlage scheint "Speaker Bercow's" auch hinter den Kulissen von Westminster dem einen oder anderen Politiker als Beruhigungsmittel zu dienen. Schon lange steht der Parlamentspalast an der Themse im Ruf, ein Paradies für Schluckspechte zu sein - kein Wunder vielleicht bei den 22 verschiedenen Bars, die er beherbergt! Als es vor ein paar Jahren zu einer Schlägerei zwischen betrunkenen Abgeordneten kam, geriet John Bercow in die Kritik, das wahre Ausmaß des Alkoholismus im Parlament geheim zu halten.
Später wurde berichtet, dass der Konsum von Bier, Wein und hochprozentigen Spirituosen jedes Jahr mit rund 4 Millionen Pfund an Steuergeldern bezuschusst wird und dabei alleine rund 3000 Flaschen von Bercows Schnaps geleert werden! Und vielleicht begreifen es manche Abgeordnete ja tatsächlich als Aufforderung zur Nachbestellung, wenn ihr Sprecher immerfort "Order, Order!" brüllt.
Sogar im Plenarsaal ist Alkohol unter der Aufsicht des Sprechers erlaubt - allerdings nur einem einzigen Abgeordneten während einer einzigen Sitzung: dem jeweiligen Finanzminister während der Haushaltsdebatte. Der letzte Politiker, der dieses Privileg in Anspruch nahm und mit einem Glas Beruhigungsmittel, also Scotch, das Budget verhandelte, war übrigens Kenneth Clarke. Heute ist er nicht nur der älteste Abgeordnete und damit "Father of the House", sondern auch ein ziemlich nüchterner Gegner des Brexit. Das macht ihn zu einem heimlichen Verbündeten von John Bercow, der ebenfalls für einen Verbleib des Königreichs in der EU ist.
Egal, wie die Geschichte mit dem Brexit ausgeht - Bercow und Clarke wissen beide, dass Alkohol keine Lösung ist. Trotzdem haben sie immer einen Grund, gemeinsam zu trinken: gegen die Schmerzen wegen des Chaos. Oder, wer weiß, vielleicht auch bald schon vor Freude über einen glücklichen Ausgang, die man dann wirklich nur noch mit Alkohol erklären kann.
Quelle: ntv.de