Klaus Stöhr im ntv-Interview "Vielleicht mit drastischeren Maßnahmen vorgehen"
05.11.2021, 14:48 Uhr
Der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr regt eine zeitlich begrenzte Impfpflicht an.
Der Schutz durch die Corona-Impfungen ist sehr gut, lässt aber im Laufe der Zeit nach. Die Politik habe bereits wertvolle Zeit vergeudet, die besonders vulnerablen Gruppen erneut zu schützen, sagt der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr bei ntv. Dazu gehört aber auch, über das Pflegepersonal zu sprechen - und vielleicht eine zeitlich begrenzte Impfpflicht zu erlassen.
ntv: 2G oder 3G? Diese Frage ist politisch ein heißes Thema. Aus virologischer Sicht auch?
Klaus Stöhr: Wir sehen jetzt, dass die Inzidenzen generell über 170 liegen. Man muss da ein bisschen differenzieren. Im vergangenen Jahr war bei den über 70-Jährigen die Inzidenz jetzt schon bei 170, 200, 300 gewesen. Das ist überhaupt noch nicht der Fall, die liegt jetzt im Durchschnitt bei 80. Allerdings sind die Kinder und Jugendlichen viel mehr betroffen. Es ist ein Nachholeffekt, der hier eintritt: Die Kinder waren über den Sommer immer wieder separiert, da konnte die natürliche Immunität noch nicht greifen. Aber jetzt müssen tatsächlich Maßnahmen überdacht werden. Es ist fraglos, dass die Immunität durch Impfstoffe sehr gut ist und sehr schnell einsetzt. Aber die hält eben nicht so lange an, das sehen wir jetzt. Und das heißt, diejenigen, die besonders vulnerabel sind, also die über 60- und 70-Jährigen, die werden zuerst betroffen durch diese Re-Infektion. Und die werden dann auch sicherlich auf den Intensivstationen landen. Und das kann man mit dieser Booster-Impfung sehr gut verhindern, das ist völlig fraglos.
Was sagen Sie zu den Maßnahmen, die da jetzt in der Diskussion sind: Lockdown nur für Ungeimpfte, 2G flächendeckend - ist das sinnvoll?
Man muss die Maßnahmen skalieren in einer Pandemie, das ist ganz normal. Und man fängt da an, wo man den größten Effekt erzielt. Die meisten Viren scheiden die Ungeimpften aus - natürlich auch noch einige Geimpfte, zum Teil so viel wie Ungeimpfte, aber das kommt eben seltener vor. Das Virus wird in der Regel kürzer ausgeschieden. Deswegen macht es Sinn, sich zu überlegen, ob man die Ungeimpften tatsächlich versucht zu separieren. Es ist natürlich auch eine politische Frage. Von den ungefähr 15 Prozent noch nicht geimpften Erwachsenen sind ungefähr zwei Drittel Hardcore-Impfverweigerer. Was macht man mit denen? Das sind ja freiwillig Ungeimpfte und die werden jetzt unfreiwillig vor der Infektion geschützt. Man muss noch besser kommunizieren. Ich glaube, das Entscheidende jetzt ist nicht so sehr, sich nur auf 2G und 3G zu fokussieren, sondern die Impfung endlich zu denen zu bringen, die am meisten davon profitieren. Das sind die in den Alten- und Pflegeheimen. Dazu gehört aber auch das Pflegepersonal. Die Ausbrüche, die in Brandenburg berichtet wurden, sind höchstwahrscheinlich durch ungeimpftes Pflegepersonal eingeschleppt worden. Weniger als 50 Prozent sind dort geimpft.
Eine Impf- oder zumindest eine Testpflicht für Personal in Pflegeheimen bleibt umstritten. Was würden Sie befürworten?
Aus meiner Erfahrung wirken Überzeugung und Information eigentlich immer besser als Zwang und Druck. Aber jetzt ist nicht mehr viel Zeit zum Reden und Diskutieren. Der Winter steht vor der Tür. Man hat wiederum - leider, muss man das sagen - drei Monate lang nicht sehr viel getan. Es gab eine Gesundheitsministerkonferenz im August, bei der das Thema angesprochen wurde. Jetzt haben wir Anfang November. Und die Impfrate in den Alten- und Pflegeheimen oder bei denen, die jetzt davon profitieren, liegt unter zehn Prozent. Jetzt muss man vielleicht auch mit drastischeren Maßnahmen vorgehen. Man braucht jetzt eine multidisziplinäre Gruppe aus Kollegen aus den Gesundheitsämtern, dem Pflegedienst, dem Pflegepersonal, sicherlich auch Ethiker, aber auch der ein oder andere Virologe und Epidemiologe. Die muss sich überlegen: Macht es Sinn, den Impfzwang durchzusetzen? Wenn das besser für die Bevölkerung ist, für die besonders vulnerablen Gruppen, für die, die wir am meisten schützen müssen, dann sollte man das überlegen. Man kann es auch temporär einsetzen und dann wieder zurücknehmen. Weiter so wie bisher macht keinen Sinn.
Haben die Gesundheitsminister von Bund und Ländern es verschlafen, rechtzeitig eine Booster-Impfungskampagne vorzubereiten und dafür zu werben?
Ja. Den langfristigen Unterschied wird nicht so sehr 2G und 3G machen. Das ist auch wichtig, um die Ungeimpften zu motivieren, sich vielleicht noch impfen zu lassen. Das andere wäre sicherlich auch, die Kontakte zu reduzieren. Aber der entscheidende Unterschied wird gemacht durch die Impfung. Die über 80-Jährigen, die sich im Januar und Februar haben impfen lassen, haben eigentlich immer noch einen guten Schutz. Der ist zwei Drittel reduziert gegen tödliche Verläufe, aber das reicht nicht aus. Jetzt muss man den Booster nutzen, um tatsächlich den vollen Schutz zu bekommen. Der Fokus muss auf den Alten- und Pflegeheimen liegen. Jetzt die Diskussionen über Impfungen bei Kinder und Jugendlichen zu führen, das lenkt ja völlig ab.
Quelle: ntv.de