Panorama

"Büchse der Pandora geöffnet" Zeugin verfolgte 280 Hinrichtungen

Bis heute findet Lyons die Todesstrafe für manche Taten angemessen.

Bis heute findet Lyons die Todesstrafe für manche Taten angemessen.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Zwölf Jahre lang sitzt Michelle Lyons im Zuschauerraum, wenn im texanischen Huntsville Menschen hingerichtet werden. Insgesamt sieht sie 280 Räuber, Mörder und Vergewaltiger sterben. Dann kann sie nicht mehr.

Mit 550 Exekutionen seit 1976 führt der US-Bundesstaat Texas die Statistik der vollstreckten Todesurteile in den USA an. Michelle Lyons hat zunächst als Reporterin und später als Sprecherin der Texanischen Justizbehörden zwölf Jahre lang die Hinrichtung von Räubern, Vergewaltigern und Mördern verfolgt. Als sie 2012 die Justizbehörden verließ, hatte sie insgesamt 280 Verurteilte sterben sehen.

Sie fand, das waren genug. Sie wollte diesen Teil ihres Lebens hinter sich lassen. Doch das war leichter gesagt als getan. Denn mit der Bewältigung ihrer Erlebnisse hat Lyons bis heute zu tun. "Es war, als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet und konnte sie nicht wieder schließen", zitiert die BBC Lyons. Gerade ist ihr Buch "Todeszelle – Die letzten Minuten" auf Englisch erschienen.

Sie sei keine Gegnerin der Todesstrafe gewesen. "Ich hielt es für die beste Strafe für bestimmte Verbrechen", sagt sie über sich selbst als junge Frau. Lyons war 22 Jahre alt, als sie das erste Mal im Zeugenraum des Hinrichtungstraktes Platz nahm. "Zuerst habe ich mir Sorgen gemacht, dass etwas mit mir nicht stimmt, weil ich nichts fühlte", erinnerte sie sich gegenüber "The Daily Beast".

Es habe eine Weile gedauert, bis sie merkte, dass sie von den Vorgängen keineswegs unberührt blieb, sagte sie der BBC. Das hänge wahrscheinlich auch mit der sterilen Umgebung zusammen, in der das Töten stattfinde. Außerdem laufe der ganze Vorgang wie am Schnürchen. Erst mit der Zeit sei ihr klar geworden, dass sie bei jedem Hinrichtungstermin Details wahrgenommen hatte, an die sie sich immer wieder erinnerte.

Unauslöschliche Einzelheiten

Ein Verurteilter trug seine Brille, während das Gift in seine Adern floss und immer noch, als er tot war. Eine Mörderin hatte sehr kleine Füße. Manche Todeskandidaten beteten oder baten verzweifelt um Vergebung, andere fluchten, bis sie das Bewusstsein verloren. Die letzten Atemzüge konnten wie ein Husten klingen oder wie ein Keuchen. Manchmal waren Angehörige des Verurteilten oder seiner Opfer im Zuschauerraum, manchmal kam nicht einmal der Reporter der Lokalzeitung.

Als sie 2004 schwanger wurde, wuchs die Ambivalenz. Lyons begann sich Sorgen zu machen, dass auch ihr Baby die letzten Minuten der Verurteilten mitverfolgte. Plötzlich sah sie die Mütter der Delinquenten mit anderen Augen. Die Hinrichtungen wurden zu traurigen Situationen, die sie immer wieder erleben musste. Sie weinte danach stundenlang und konnte mit niemanden darüber reden, auch nicht mit ihrem Mann.

Inzwischen ist sie sicher, dass die Todesstrafe viel zu oft verhängt und ausgeführt wird, auch wenn sie sie weiter für schlimmste Verbrechen für notwendig erachtet. Sie hofft, dass ihr Buch die Komplexität der Todesstrafe veranschaulicht. "Es ist nicht schwarz und weiß. Das sind echte Menschen, die hingerichtet werden."

Quelle: ntv.de, sba

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