Politik

Auf ein Wort in Eisenhüttenstadt "Das Geld liegt im Westen"

Heike (l.) und Ellen sind seit der Schulzeit beste Freundinnen.

Heike (l.) und Ellen sind seit der Schulzeit beste Freundinnen.

(Foto: Robert Dakin)

Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung kann von gleichen Bedingungen in Ost und West noch immer keine Rede sein. Krankenpflegerin Ellen und ihre beste Freundin aus Schulzeiten macht das wütend.

In Deutschland leben mehr als 82 Millionen Menschen - und doch kommen viel zu oft nur die üblichen Verdächtigen oder die mit den lautesten Parolen zu Wort. Um das zu ändern, reisen wir bis zur Bundestagswahl am 24. September durch Deutschland und bitten Menschen um ihre Meinung, die sonst damit hinter dem Berg halten würden. Die Artikel erscheinen immer mittwochs. Diese Woche sind wir zu Gast in Eisenhüttenstadt.

Wer einen wildfremden Menschen auf der Straße anspricht, muss in der Regel mit einer gesunden Portion Misstrauen rechnen. Das Outing als Reporter, der über Politik sprechen möchte, macht die Sache nicht besser: Das Vertrauen in die Presse ist gering, die Angst, falsch dargestellt zu werden, dafür groß. Ellen hat keine Angst davor, falsch dargestellt zu werden, denn Ellen ist wütend. Sehr wütend sogar. "Lassen Sie uns über die Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem sprechen", diktiert die Krankenpflegerin das Thema des Gesprächs und tritt ihre Zigarettenkippe in den Eisenhüttenstädter Asphalt.

"Es muss sich bald was ändern im System, sonst haben wir demnächst keine Krankenpfleger mehr, die sich um unsere Kranken kümmern", sagt die stämmige Schwester, die seit 1993 im städtischen Krankenhaus arbeitet und gerade ihre beste Freundin aus Schultagen vom Bahnhof abgeholt hat. 24 Jahre Berufserfahrung - die Frau weiß, wovon sie redet. Doch woran hakt es genau? "In Hamburg würde ich für die gleiche Arbeit wie hier 1000 Euro mehr mit nach Hause nehmen", sagt Ellen. Ein Extrembeispiel, schließlich ist die Hansestadt auch eine der teuersten in ganz Deutschland, aber tatsächlich liegt die Lohndifferenz zwischen den alten und neuen Bundesländern in vielen Branchen immer noch zwischen 15 und 30 Prozent. Das muss aufhören, findet Ellen, und passt einen zuletzt vor allem gendertechnisch genutzten Wahlspruch für ihre Zwecke an: "Wir brauchen gleichen Lohn für gleiche Arbeit."

"Die Jungen würden trotzdem noch wegziehen"

Man merkt im Gespräch mit dieser Frau, für die das Wort "resolut" im Duden platziert worden sein muss, schnell: Ellen ist es gewohnt, Anweisungen zu erteilen. Und wie das bei guten Krankenschwestern so ist, möchte man ihren Anweisungen unverzüglich Folge leisten. Ließe sich das Problem also schon lösen, wenn führende Gesundheitspolitiker für ein paar Tage in Ellens Abteilung liegen würden? Für solche Träumereien hat die Krankenpflegerin keine Zeit, ihr geht es um praktikable Lösungen.

Das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt ist noch in Betrieb.

Das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt ist noch in Betrieb.

(Foto: imago/photothek)

"Wir zahlen alle hohe Krankenkassenbeiträge, das Geld ist also da", sagt Ellen. "Es landet nur nicht da, wo es hinsoll, nämlich bei den Menschen. Stattdessen haben wir 113 gesetzliche Krankenkassen. Das heißt 113 Geschäftsführer, die im sechsstelligen Bereich verdienen und 113 Behörden mit Tausenden Mitarbeitern verwalten, die im Prinzip alle dasselbe leisten. Wir könnten Millionen und Abermillionen an Euros anderweitig verwenden, wenn wir das System verschlanken würden." Die Zahl stimmt, auch wenn sie seit Jahren sinkt. 2007 etwa gab es noch 242 Krankenkassen.

Mit der Reduzierung der gesetzlichen Kassen wäre es allerdings nicht getan: "Die Jungen würden wahrscheinlich trotzdem noch von hier wegziehen, das Geld liegt ja im Westen", sagt Ellen. Wer sich in Eisenhüttenstadt umschaut, bekommt den Eindruck, dass die Krankenpflegerin Recht hat: Fast die Hälfte der Bevölkerung ist nach der Wende aus der ehemaligen Vorzeige-Planstadt der DDR weggezogen, im Stahlwerk arbeiten statt 16.000 Menschen mittlerweile nur noch 3000. Dazu kommt, dass das industrielle Erbe der Stadt für eine überdurchschnittlich hohe Krebsrate gesorgt hat - blühende Landschaften sehen anders aus.

"Der Soli kommt hier nicht an"

Aber was ist mit dem Solidaritätszuschlag, der für gleiche Verhältnisse in Ost und West sorgen soll? "Der kommt hier nicht an", findet Ellen, und ihre Schulfreundin, die bisher misstrauisch danebenstand, pflichtet ihr bei. Heike zog nach der Wende ins baden-württembergische Weinheim, hat dort erst ihre große Liebe gefunden und dann wieder verloren, nur um nach der Scheidung alleinerziehend und ohne Unterstützung in der Fremde zu sitzen. Die blonde Frau kennt beide Welten - und mehr als 20 Jahre in Süddeutschland bestätigen sie in der Vermutung, dass Ellen Recht hat. Tatsächlich flossen 2016 im Rahmen des Solidarpaktes 6 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer. Das klingt zwar nicht schlecht, eingenommen wurden durch den Solidaritätszuschlag allerdings insgesamt 16,85 Milliarden. Ein Großteil des Geldes fließt also schon lange nicht mehr in den Aufbau Ost.

Trotz der gefühlten und tatsächlichen Ungerechtigkeiten denkt Ellen nicht im Traum daran, Eisenhüttenstadt zu verlassen. Die Krankenpflegerin ist eine Kämpfernatur und sprüht bei aller Unzufriedenheit vor Lebensfreude. Wahlverweigerung kommt Ellen deshalb nicht in die Tüte: "Ich wähle links!" Zum ersten Mal kommt bei ihrem Ausspruch auch Bewegung in Heikes Vater, der bislang reglos ein wenig abseits stand. "Opa, sag doch auch mal was", hatte Heike ihn vorher schon mehrmals erfolglos aufgefordert. Jetzt wird klar, warum der Großvater bislang so still war: "Das bringt doch eh alles nix", sagt er und guckt die zwei Frauen an, als müssten sie erst noch auf die harte Tour lernen, dass das Leben eine Tretmühle ohne Happy End ist.

Quelle: ntv.de

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