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Reisner zu Israels Bomben "Das Haus klappt in sich zusammen"

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Kampfjets der israelischen Luftwaffe bombardieren ein Gebäude im Gazastreifen.

Kampfjets der israelischen Luftwaffe bombardieren ein Gebäude im Gazastreifen.

(Foto: via REUTERS)

Israel setzt sich gegen die Hamas zur Wehr - in dicht besiedeltem Gebiet. Wie schwierig das ist, wenn man Zivilisten verschonen will, erklärt der Militärexperte Oberst Markus Reisner. Er beschreibt, wie präzise moderne Bomben heute treffen, und doch lauern die Risiken für Zivilisten überall.

ntv.de: Herr Reisner, die israelischen Streitkräfte (IDF) dokumentieren im Netz ihre Luftangriffe auf Gaza. Dort sind anvisierte Gebäude zu sehen, die dann explodieren, danach dichte Rauchwolken, aber kein Lagebild nach dem Angriff. Stehen hinterher die Nachbarhäuser noch?

Markus Reisner: Die IDF nutzen hier Präzisionsbomben, sogenannte "Joint Direct Attack Munition", kurz JDAM. Mit denen führt man keine Flächenbombardements durch, sondern gezielte Angriffe. Diese Systeme, die auch die Ukraine einsetzt, haben eine sehr hohe Zielgenauigkeit. Der sogenannte circular error probable, also der Streukreisradius, liegt bei drei bis fünf Metern. Genau das sehen wir auf diesen Bildern. Auf drei bis fünf Meter genau können die Israelis berechnen, wo die Bombe einschlägt und wie weit sie wirkt.

Das IDF-Video zeigt bei Sekunde 0:20, wie eine Bombe detoniert und das Haus explodiert, während ein Auto daran vorbeifährt. Es beschleunigt und fährt weiter, eine Druckwelle ist nicht zu sehen. Wie geht das?

Denken Sie mal an den heftig diskutierten deutschen Marschflugkörper vom Typ Taurus. Aufgrund seines Zünders nimmt der für sich in Anspruch, beim Treffen eines Gebäudes nicht unmittelbar zu detonieren, sondern er schlägt ein, durchstößt vielleicht die oberen drei Etagen und detoniert erst verzögert, zum Beispiel im zweiten Stock.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Das Haus fliegt nicht auseinander?

Nein, es klappt in sich zusammen, es bricht zusammen. Trotzdem lässt es sich in einem eng bebauten Gebiet wie dem Gazastreifen nicht vermeiden, etwa durch herabfallende Trümmer oder Splitter einer einschlagenden Rakete, Sekundäreffekte auszulösen, Unschuldige zu treffen. Wenn Menschen nahe am Zielobjekt stehen oder es gar nicht gelungen ist, das Haus zuvor vollständig zu evakuieren, wird man hinterher Opfer zu beklagen haben. Durch die Entwicklung immer exakterer Waffen, die chirurgisch genau arbeiten, hat man in den letzten Jahren versucht zu suggerieren, es gebe einen präzisen, einen "sauberen" Krieg. Den gibt es nicht.

Abseits der Präzision, welche Möglichkeiten nutzen die IDF, um Zivilopfer möglichst zu vermeiden?

Sie arbeiten nach folgendem System: Zuerst wird im betroffenen Raum über Kurznachrichten auf Handys die Information verbreitet, dass ein Objekt in Kürze angegriffen wird. Das zweite, was passiert: Sie werfen eine sogenannte Betonbombe auf das Gebäude, für alle sichtbar. Dies ist das unmittelbare Zeichen für den kommenden Einschlag von tatsächlich scharfen Bomben. Zwischen fünf und 45 Minuten später kommt die Bombe, die das Objekt zerstört.

Setzt Israel auch verbotene Waffen ein, etwa Phosphormunition, wie mehrere NGOs dem Militär vorwerfen?

In Stellungen der israelischen Artillerie sind 155mm Nebelartilleriegranaten vom Typ D528 erkennbar. Diese Munitionssorte enthält weißen Phosphor und dient aufgrund der massiven Rauchentwicklung beim Abbrand der Tarnung einer eignen Annäherung. Der Einsatz von weißem Phosphor in der Nähe von Zivilisten ist nach Protokoll III des Übereinkommens der Vereinten Nationen über bestimmte konventionelle Waffen verboten. Bei einem konkretem Verdacht muss also gezielt und nachweislich überprüft werden, ob Israel diese Vorgabe missachtet hat. Israel ist allerdings nicht Vertragspartei dieses Protokolls, das die USA unterzeichnet haben. Israel versucht so gut wie nur möglich die Grundsätze des humanitären Völkerrechts einzuhalten.

Können Sie die zentralen Punkte kurz nennen?

Der Unterscheidungsgrundsatz zwischen Soldaten und Zivilisten, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - zivile Opfer also so gut wie möglich zu vermeiden, das Verbot unzulässiger Methoden - zum Beispiel keinen Rettungstransport vorzutäuschen, um darin Waffen zu transportieren, und das Gebot der Menschlichkeit.

Hamas soll viele Waffenlager und Kommandozentralen in Kellern und dem weit verzweigten Tunnelsystem haben. Sind die überhaupt aus der Luft angreifbar?

Die Israelis versuchen, mit durchschlagenden Bomben die unterirdischen Bunkeranlagen zu zerstören. In Videos sehen Sie das an Rauchwolken, die sehr plötzlich und massiv aufsteigen. Das ist typisch für den Einsatz bunkerbrechender Waffen, die in diesen Tunneln wirksam werden. Dieses Vorgehen kennen wir schon aus den Kämpfen von 2021 und 2014, allerdings damals sehr viel moderater. Israel steigert jetzt Qualität und Quantität deutlich. Einerseits natürlich, um die Hamas vernichtend zu treffen, aber einen weiteren Aspekt darf man auch nicht vergessen: Israel will und muss allen Feinden zeigen, dass es hier keinen Schwächemoment erlebt, dass das Land bereit ist, mit aller notwendigen Stärke zurückzuschlagen, mit allem, was es verfügbar hat.

Nochmal zu Ihrer Aussage, es gebe keinen sauberen Krieg: Über die Hamas heißt es, sie verfolge die Strategie, Kämpfe besonders "dreckig" zu gestalten, mit vielen zivilen Opfern in der eigenen Bevölkerung, die man dann dem Gegner anlastet. Sind das valide Kenntnisse?

Es gibt genug Beweise, auch bildliche, auf denen erkennbar ist, dass die Hamas gezielt Waffenlager zum Beispiel in oder unter Kindergärten einrichtet. Beweismaterial zeigt Hamas-Führungskader und Gefechtsstände, die sich im Keller eines Krankenhauses in Gaza befinden. Einerseits wollen die Terroristen so verhindern, dass die Israelis diese Objekte angreifen. Zweitens, wenn sie angegriffen werden, wollen sie danach der Weltöffentlichkeit Bilder von verwundeten und getöteten Kindern und Kranken präsentieren können. Folgendes dürfen wir auch nicht vergessen: Die wichtigste Zielgruppe dabei sind muslimische Bevölkerungen auf der ganzen Welt, die dann beginnen zu protestieren und so enormen Druck auf ihre Regierungen ausüben.

Wenn die IDF vor einer solchen Problematik stehen: Ein Kommandostand der Hamas ist aufgeklärt, aber befindet sich im Keller einer Klinik. Könnten sie im Rahmen der Bodenoffensive präziser, "schonender" vorgehen, als es aus der Luft möglich ist?

Wenn Spezialkräfte im Einsatz sind, besteht die Chance, ein Objekt in Besitz zu nehmen, ohne es zerstören zu müssen, sogar ohne zivile Opfer zu verursachen. Das ist möglich, und das haben die IDF in den letzten Jahren auch gezeigt: Mit gezielten Vorstößen wurden Hamasführer gefangen genommen. Aber es bleibt dabei: Im urbanen, dicht besiedelten Raum ist es enorm schwierig, militärische Ziele zu erreichen. Und für die Hamas sind die Zivilisten als Schutzschilde wertvoll. Darum zwingt sie die Leute, vor Ort zu bleiben und nicht in den Süden zu fliehen, was es für Israels Truppen sehr schwierig macht. Dazu kommen die rund 200 israelischen Geiseln in Gaza.

Sehen Sie eine Chance, dass Offensivkräfte am Boden für die Geiseln etwas ausrichten könnten?

Wenn man ein genaues Lagebild hat, kann man fast chirurgisch präzise arbeiten. Wenn wir uns an 2003 erinnern, als beim Einmarsch im Irak einige amerikanische Soldaten, darunter auch eine weibliche Soldatin, gefangen genommen wurden: Die sind später von amerikanischen Spezialkräften befreit worden. Aber auch ganz andere Szenarien sind denkbar, wenn zum Beispiel die Hamas zwei oder drei Personen am Dach eines Gebäudes anketten würde. Das hat es in den Balkankriegen gegeben, da hat die serbische Seite durch Erpressung mit angeketteten Geiseln die NATO zu Verhandlungen gezwungen.

Die IDF müssen deutliche Erfolge erzielen, um die Gefahr durch die Hamas zu bannen und weitere Feinde abzuschrecken. Zugleich müssen sie möglichst schonend vorgehen, um die Zahl der Zivilopfer gering zu halten. Gibt es für dieses Dilemma eine Lösung?

Nein. Die Israelis versuchen durch die Aufforderung an die palästinensischen Zivilisten, den Norden des Gazastreifens zu verlassen, die Zivilisten von den Angriffszielen zu trennen. Aber in einer Situation wie dieser, wo es Chaos gibt, wo Menschen verzweifelt sind, von A nach B flüchten, auf der Suche nach Angehörigen sind, da kann man nicht voll umfassend kontrollieren, wer sich in einem Gebiet befindet. Da kommt es dann zu Zivilopfern. Israel hat jetzt einen gewissen Zeitraum zur Verfügung, in dem die internationale Sympathie eindeutig auf seiner Seite ist, auf der Seite des Angegriffenen. Diesen Zeitraum müssen sie nutzen und versuchen, die Hamas bereits jetzt empfindlich zu treffen. Je länger das aber dauert und der Konfliktverlauf in der Durchführung brutaler wird, desto schwieriger wird es für die Israelis werden, dem internationalen Druck standzuhalten.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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