Polnischer Freifahrtschein "Das ist der juristische Polexit"
08.10.2021, 15:27 Uhr
Die Ernennung von Julia Przyłębska zur Präsidentin des Verfassungsgerichts 2016 ist juristisch umstritten.
(Foto: picture alliance / PAP)
Polens Verfassungsgericht entscheidet, dass das polnische Recht Vorrang vor dem der EU hat. Das Urteil hat weitreichende Folgen, auch für die Europäische Union, denn Polens Justizkrise ist längst zum Problem der EU geworden.
Mit einem lauten Knall ist am Donnerstag in Polen ein Verfahren beendet worden, das das Zeug für eine Netflix-Serie hätte. Um 17.15 Uhr verkündete Verfassungsgerichtspräsidentin Julia Przyłębska die Entscheidung in dem Fall mit der Nummer K 3/21, die es in sich hat. Demnach stehen Teile der europäischen Verträge nicht im Einklang mit der polnischen Verfassung. Europäische Rechtsnormen und bestimmte Urteilssprüche des Europäischen Gerichtshofs haben fortan in Polen keine Geltung mehr.
Das Urteil ist der Höhepunkt eines Streits, der sich seit Monaten hinzieht. Nachdem der EuGH in einem Urteil die Besetzung der Richterposten am Obersten Gericht in Polen infrage gestellt hatte, beauftragte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki das Verfassungsgericht im März mit der Prüfung dieser Frage. Vier Mal vertagten die Richter ihre Entscheidung, zuletzt in der vergangenen Woche.
Hinter diesem Vorgehen schien System zu stecken: Viele Beobachter gingen davon aus, dass das Verfassungsgericht den Beschluss erneut aufschieben werde. Einer der jüngsten Streitpunkte zwischen Warschau und Brüssel ist die Auszahlung von 58 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds, die von der Europäischen Kommission seit Wochen verzögert wird. Einer der Hauptgründe dafür ist die vom Verfassungsgericht behandelte Frage, ob das polnische Recht über dem der EU steht. Statt einer Eskalation erwartete man daher eher, dass Warschau auf Zeit spielen würde.
Schon heute verweigern europäische Gerichte Auslieferungen nach Polen
Doch eine weitere Verhandlung wird es nicht geben. "Faktisch bedeutet dieses Urteil den juristischen Polexit", sagt Jakub Jaraczewski, Research Coordinator bei der in Berlin ansässigen NGO Democracy Reporting International. "Polen bleibt Mitglied der Europäischen Union, gehört aber nicht mehr der europäischen Rechtsgemeinschaft an", so der Rechtsexperte. "In der Praxis wird es nun so aussehen, dass europäische Gerichte Auslieferungen nach Polen verweigern werden." Was nicht neu wäre: Bereits in den vergangenen Jahren verweigerten einige europäische Gerichte, darunter das Oberlandesgericht in Karlsruhe, die Auslieferung von Verdächtigen nach Polen. Begründet wurde dies mit der in Polen durchgeführten Justizreform, mit der die Unabhängigkeit der Richter stark beschnitten wurde.
Die in Polen regierenden Nationalkonservativen nehmen diese sowohl für Polen als auch die EU weitreichenden Folgen des Urteils in Kauf. "Vor dem Verfassungsgericht siegte heute Polen", twitterte der PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk, der bei der Verhandlung den Sejm repräsentierte. Der polnische Botschafter in Deutschland, Andrzej Przyłębski, Ehemann von Verfassungsgerichtspräsidentin Przyłębska, verkündete wiederum, das Urteil des Verfassungsgerichts habe "nicht nur die Souveränität Polens, sondern auch anderer EU-Staaten gerettet". Einen juristischen Polexit bezeichnete er als "Fake". Nicht anders fielen die Kommentare anderer nationalkonservativer Größen und regierungsnaher Medien aus.
Polens Verfassungsgericht teilweise illegitim
Diese Reaktionen sind wenig erstaunlich. Denn mit dem Urteil des Verfassungsgerichts, dem mit Krystyna Pawłowicz und Stanisław Piotrowicz auch zwei ehemalige PiS-Parlamentier angehören, die bei der sogenannten Justizreform entscheidende Rollen gespielt hatten, haben sich die Nationalkonservativen einen Freifahrtschein geschaffen für den von ihnen weiterhin forcierten Umbau des Justizwesens. Jegliche Kritik daran können sie nun mit dem Verweis auf das Urteil des Verfassungsgerichts zurückweisen. Dass das Verfassungsgericht wegen der von der PiS eingesetzten "Doppelgängerrichter" nach einem diesjährigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte selbst teilweise illegitim ist, passt zu der polnischen Justizkrise, die mittlerweile auch eine EU-Krise ist.
Die polnische Regierung stört das nicht. Offen ist, wie groß der Preis sein wird, den Polen für das Urteil wird zahlen müssen. Die Europäische Kommission hat bereits in einer Stellungnahme klargestellt, dass es das europäische Recht ist, das Vorrang hat. Das einzige und effektivste Mittel wäre die Kürzung oder Nicht-Auszahlung von EU-Fördermitteln. Mit dem im letzten Jahr von den EU-Staatschefs beschlossenem Rechtstaatsmechanismus gäbe es jedenfalls eine Grundlage für diesen Schritt, die Polen als größten Nettoempfänger schwer treffen würde.
Damit die Entscheidung des Verfassungsgerichts rechtskräftig wird, muss sie im Gesetzesblatt veröffentlicht werden. In den vergangenen sechs Jahren hatten die Nationalkonservativen keine Probleme damit, solche Veröffentlichungen hinauszuzögern. Möglich, dass Polen doch noch auf Zeit spielt.
Quelle: ntv.de