Wehr-Experte Masala zu Kabul "Das war eine Meisterleistung"
31.08.2021, 10:27 Uhr
Der Rumpf einer Boeing C17 wartet auf dem Rollfeld des Flughafens in Kabul auf Menschen, die rauswollen.
(Foto: imago images/ZUMA Wire)
Der Einsatz der USA am Flughafen von Kabul ist Geschichte. Gemeinhin wurden die vergangenen Tage als Fiasko für den Westen angesehen. Professor Carlo Masala erklärt im Interview, warum der Einsatz ein Erfolg war und was der Bundeswehr und den Europäern fehlt, um so etwas durchzuführen.
ntv.de: Der Abzug der NATO-Truppen aus Kabul ist vollzogen. Wenn Sie zurückschauen, es war chaotisch, es sah nicht gut aus. Hätte man es überhaupt besser machen können oder musste es im Chaos enden?
Carlo Masala: Es war ein Chaos. Und für dieses Chaos war das eine militärische und logistische Meisterleistung. Das muss man einfach sagen. Sie haben zeitweilig 5000 Menschen auf dem militärischen Teil des Flughafens gehabt. Sie haben Zehntausende gehabt, die versuchten, da hineinzukommen. Es gab eine enge Kooperation mit den Taliban, ohne die hätte es nicht funktioniert. Für diese chaotische Situation da unten ist die gesamte Aktion echt gut abgelaufen. Dass es zu dem Anschlag des IS kam, schmälert die Leistung nicht. So ein Anschlag war kaum zu verhindern.
Was lernen wir aus der Kabul-Evakuierung?
Kümmert euch frühzeitig. Wir hätten als Deutsche wesentlich weniger Stress gehabt, wenn wir, nachdem die Verteidigungsministerin im April die Frage der Ortskräfte aufs Tapet gebracht hatte, nicht so viel Hickhack zwischen Auswärtigem Amt und Innenministerium gehabt hätten. Dann hätten wir einen Teil der Ortskräfte schon früher herausbringen können. Und wenn das Entwicklungshilfeministerium nicht bis zur letzten Sekunde gewartet hätte, um seine Leute herauszuholen.
CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet hat am Sonntag im Triell gefordert, dass die Europäer in der Lage sein sollten, einen Flughafen wie in Kabul selbst zu verteidigen. Was bräuchte die Bundeswehr, um das zu tun?
Laschet hat geäußert, dass die Europäer dazu in der Lage sein sollten. Wenn er nur Bundeswehr gesagt hätte, hätte ich gesagt: Das ist irre. Die Bundeswehr wird so einen Flughafen in so einem Szenario nie verteidigen können. Die Frage ist, wie die Europäer ihre Kräfte verbessern, um das zu können. Die Amerikaner waren mit 7000 Mann da. Das würden wir nie hinbekommen, das muss man einfach so sagen.
Aber das deutsche Kontingent betrug in den vergangenen Jahren immerhin bis zu 5350 Soldaten.
Aber das waren alles Kräfte für andere Szenarien. Was viele in der Diskussion übersehen haben, ist, dass die Amerikaner da einen Flughafen betrieben haben. Die haben nicht nur Leute mit einer Knarre dahin geschickt, die den gesichert haben. Die haben alles, was ein Flughafen können muss, selbst gemacht.
Also auch Fluglotsen und so etwas?
Genau. Air Traffic Controller, Fluglotsen, Cargo, die haben eine Krankenstation unterhalten, das haben die alles mit ihren eigenen Leuten gestemmt. 7000 dahin zu schicken, die all das können, würde die Bundeswehr in ihrer gegenwärtigen Situation, auch mit ihren 180.000 Männern und Frauen, überfordern. Das kann die Bundeswehr nicht alleine machen. Wir haben unsere Airbus A400M dahin geschickt, die vielleicht 200 Mann aufnehmen konnten. Die Amerikaner haben die Boeing C17-Globemaster dahin geschickt, die regulär an die 450 Leute aufnehmen kann. Wir kennen alle das berühmte Foto von dem Piloten aus der C17, der sagte: 700 Leute, kein Problem, ich fliege sie raus.
Das Foto von den Menschen, die sich alle zusammengedrängt auf den Boden des Flugzeugs gekauert haben.
Genau. Wir haben nicht einmal die Transportkapazitäten, um in relativ kurzer Zeit so eine Menge an Leuten rauszubringen wie die Amerikaner. Wenn Sie sich die amerikanische Operation ansehen, kamen ungefähr 2000 Einsatzkräfte aus der Region, also von Basen, die die Amerikaner in der Nähe Afghanistans haben. Die waren innerhalb von Stunden da. Und dann konnten die restlichen 5000, die von den USA eingeflogen wurden, nachkommen. Der Kommandeur des US Transportation Command sagte in einer Pressekonferenz, dass es von der Aktivierungsorder drei Stunden gedauert hat, bis die ersten Flugzeuge in der Luft waren. Wir haben rasend schnell unsere Kräfte in 48 Stunden aktiviert. Ich meine wirklich rasend schnell, denn normalerweise sieht das Prozedere 72 Stunden vor. Wir haben es in 48 Stunden geschafft. Das ist schon eine echte Leistung der Bundeswehr.
Aber warum kann die Bundeswehr es nicht in drei Stunden?
Weil wir gar nicht die entsprechenden Prozedere dafür haben. Und wir haben keine Maschinen in Bahrein und können sagen: Ihr fliegt mal kurz in zwei Stunden nach Afghanistan und fangt an, den Flughafen grundzusichern, bis die anderen Kräfte vor Ort sind.
Was für Aufklärung war nötig, um den Flughafen zu sichern?
Die Amerikaner hatten ein AWACS-Flugzeug über dem Flughafen im Einsatz. Das haben wir im Rahmen der NATO auch. Wir könnten das als Europäer also durchaus leisten. Was wir vor allem brauchen, ist aber der politische Wille. Und daran würde es ja aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern.
Warum?
Die Briten haben in der NATO die Frage gestellt, als die Amerikaner abgezogen sind, ob die anderen NATO-Staaten in Afghanistan bleiben wollen. Darüber gab es noch nicht einmal eine Diskussion. Das wollte keiner. Alle wollten raus. Dann gab es den G7-Gipfel, auf dem man die Amerikaner gebeten hat, ihren Einsatz zu verlängern. Das haben die Amerikaner wohl versucht, die Taliban waren aber dagegen. Dann haben die Amerikaner entschieden, sich an den 31. August zu halten. Wenn wir als Europäer da wären und die Taliban würden uns sagen: "Am 31. August müsst ihr raus" und wir sagen: "Wir sind aber noch nicht fertig, wir bleiben noch länger", dann würden wir uns in einer kriegsähnlichen Situation befinden. Und darauf hat kein Mensch Lust. Was meinen Sie, was passiert wäre, wenn 13 Deutsche bei dem Anschlag getötet worden wären? Dann hätten wir einen Rücktritt der Regierung drei Wochen vor der Wahl gehabt. Das Risiko wollte keiner eingehen.
Sind unsere Gesellschaften in Deutschland und Europa zu naiv, nicht bereit genug, Opfer zu akzeptieren?
Ja, das gilt mittlerweile übrigens auch für die Amerikaner, aber in einem wesentlich geringeren Ausmaß. Ein Beispiel: Die Franzosen haben seit 2013 insgesamt 58 Männer und Frauen in Mali verloren. Das hat dazu geführt, dass die öffentliche Meinung sich komplett gegen den Einsatz gedreht hat. Das hat dazu geführt, dass Präsident Macron diesen Einsatz komplett überdacht hat und eigentlich da rauswill. Das sind über einen Zeitraum von sieben Jahren 58 Soldaten. Das ist nicht viel. Aber Gesellschaften sind nicht mehr bereit, so etwas zu akzeptieren.
Aber ist das ein Problem? Ist das nicht auch gut so?
Es ist beides. Armeen sind dafür da, eingesetzt zu werden und in diesen Einsätzen können Leute fallen. Und natürlich muss ich sie bestmöglich ausstatten, damit sie geschützt sind. Aber letzten Endes ist das der Kern des Soldatenberufs. Wenn Gesellschaften nicht mehr bereit sind, das zu akzeptieren, dann haben wir ein Problem mit der Legitimationsgrundlage von Armeen.
Die Eurodrohne war am Sonntag auch ein Thema. Grüne und SPD sind in der Frage gespalten. Wie wichtig ist das denn, dass Deutschland eine Drohne bekommt, die auch schießen kann?
Mir ist wichtig, zu sagen: Im Kabul-Szenario wären keine deutschen Drohnen geflogen. Die Amerikaner haben das komplett organisiert. Die hätten keine deutsche Drohne dazwischen gelassen.
Wofür braucht die Bundeswehr sie denn dann?
Wenn wir in Einsätzen sind, brauchen wir sie zum Schutz von Lagern und Soldaten, den wir selbst bisher nicht organisieren. Sie begleiten Patrouillen. Unsere Patrouillen werden ja schon jetzt von deutschen Aufklärungsdrohnen begleitet. Und wenn die beispielsweise einen Hinterhalt entdeckt, dann müssen die deutschen Soldaten andere Nationen darum bitten, ihnen Close Air Support (Luftunterstützung, Red.) zu schicken. Das kann durchaus mal eine Stunde dauern, wie es in Afghanistan passiert ist. In dem Fall waren die Amerikaner, die das eigentlich machen sollten, gebunden. Dann übernahmen das die Niederländer, die aber eine Stunde entfernt waren. Es hätte sein können, dass die gesamte Patrouille in dieser Stunde gefallen wäre. Eine bewaffnete Drohne wäre also in der Lage, Aufklärung und Reaktion zu betreiben.
Die Kritiker sagen aber, eigentlich trifft man viel zu oft die Falschen. Zum Beispiel eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan.
Bei den Kritikern gehen mehrere Dinge durcheinander, und das bewusst. Die USA benutzen ihre Drohnen für sogenanntes Targeted Killing ("gezielte Tötung", Red.). Das machen wir nicht. Das ist bei uns grundgesetzlich verboten und dem würde der Bundestag auch nie zustimmen. Die Amerikaner machen ihr Targeted Killing nicht umsonst nicht über die Armee, sondern über die CIA. Denn die steht unter wesentlich geringerer legislativer Überwachung. Bei uns entscheidet der Deutsche Bundestag. Und der wird nie im Leben für Targeted Killing entscheiden.
Mit Carlo Masala sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de