Politik

Corona-Stillstand in Ferienzeit "Den Sommer kann man nicht verschieben"

Zurzeit sind die Autobahnen leer. Das könnte auch in den Sommerferien so bleiben.

Zurzeit sind die Autobahnen leer. Das könnte auch in den Sommerferien so bleiben.

(Foto: dpa)

In Deutschland verlangsamt sich die Ausbreitung des Coronavirus spürbar. Die Maßnahmen der Bundesregierung scheinen anzuschlagen. Doch eine simple Rückkehr zur Normalität darf es nach Ansicht von Experten auch nach dem Shutdown nicht geben. Gemeinsam mit Ökonomen, Psychologen, Ethikern und Virologen hat der Würzburger Mediziner Martin Lohse einen Stufenplan entwickelt, wie Wirtschaft und Gesellschaft mit möglichst geringem Risiko einer neuen Ansteckungswelle aus dem Stillstand geholt werden könnten. Im Interview mit ntv.de erklärt er, warum Firmen über die Wiederaufnahme der Produktion selbst entscheiden und Familien noch keine Reisepläne für den Sommer machen sollten.

ntv.de: Herr Lohse, Sie raten davon ab, den Shutdown einfach wieder aufzuheben. Warum?

Martin Lohse ist Professor am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Würzburg.

Martin Lohse ist Professor am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Würzburg.

Martin Lohse: Es wird für längere Zeit nicht möglich sein, zu einer Normalität zurückzukommen, wie wir sie vor der Epidemie kannten. Wenn wir jetzt einfach so weiterleben würden wie vorher, dann würden die Infektionszahlen explodieren.

Sie sagen, "für längere Zeit": Über welchen Zeitraum reden wir denn da?

Um diese Frage zu beantworten, fehlen noch zuverlässige Daten. Das macht es auch so schwierig, jetzt Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist, dass wir über Antikörpertests feststellen können, wer die Erkrankung schon gehabt hat. Die Hoffnung ist, dass schon viel mehr Menschen erkrankt waren, als wir denken - weil jüngere Personen oft keine Symptome zeigen, die Erkrankung gut wegstecken und deshalb auch nicht zum Arzt gehen. Wenn das der Fall ist, hat sich die Krankheit schon weiter verbreitet als gedacht und ist auch nicht so gefährlich wie befürchtet. Leute, die immun sind, können wir dann ohne Restriktionen wieder herumlaufen, arbeiten, unterrichten und pflegen lassen. Das kann aber noch bis weit ins nächste Jahr dauern. Bis zu dem Zeitpunkt, wo es genügend Immunität in der Bevölkerung gibt.

Solche Antikörpertests gibt es im Moment aber noch nicht.

Richtig. Das Dringlichste im Moment ist, dass die Wissenschaft diese Tests entwickelt. Wir sind, was das angeht, auf einem guten Weg. Noch sind die Tests nicht zuverlässig genug, aber das ist eigentlich nur noch eine Frage von Wochen. Und dann muss man testen, testen, testen - zuerst an repräsentativen Gruppen an unterschiedlichen Orten. Und dann auch an Einzelpersonen. Jeder muss einen Test machen können, wenn er sich fragt: "Bin ich vielleicht schon durch? Muss ich mich nicht mehr fürchten? Und kann ich wieder mit Alten, Kranken oder anderen Risikogruppen arbeiten?"

Wie sieht die Normalität aus, die wir in den kommenden Wochen erreichen können?

Wer bereits erkrankt ist, der kann eigentlich wieder ganz normal leben. Nach allem, was wir wissen, stecken junge und gesunde Leute die Krankheit ganz gut weg. Für all jene, die gesund sind, könnte man die Schulen, Kindergärten und Hochschulen wieder öffnen. Das würde auch ganz viel Druck aus den Familien nehmen, die ja teilweise in beengten Verhältnissen leben. Für gefährdete Menschen müssen aber weiterhin besondere Schutzmaßnahmen gelten. Ganz besonders das System der Altenpflege muss hygienischer werden. Altenheime sind große Gefahrenherde.

Schon jetzt leiden viele ältere, oft ohnehin isolierte Menschen unter der Kontaktsperre. Wann könnten Pflegeheime wieder für Besucher öffnen?

Das ist eine wirklich schwierige Frage. Zuerst müssen wir es schaffen, die Hygienestandards in den Heimen für die gesamte Zeit der Epidemie hoch zu halten. Dazu brauchen wir Schutzausrüstung, dazu brauchen wir auch Ausbildung - und vielleicht die Möglichkeit, die Infizierten von den Nicht-Infizierten zu trennen. Und natürlich muss man die Entscheidung darüber, ob sie sich der Gefahr einer Infektion aussetzen wollen, auch den alten Menschen selbst überlassen.

Sie sehen eine Lockerung des Shutdowns in der Wirtschaft auch nach Sektoren vor. Wie genau stellen Sie sich das vor?

Es gibt vier Kriterien, die man bei der Öffnung beachten sollte. Erstens sollte man sich fragen, wie groß das Ansteckungsrisiko ist. Wie dicht sind die Leute während der Arbeit zusammen? Zweitens: Wie groß ist die Gefahr, dass man schwer erkrankt, wenn man sich ansteckt? In Schulen ist dieses Risiko zum Beispiel recht gering, obwohl das Ansteckungsrisiko hoch ist. Drittens stellt sich die Frage, wie gut wir einen Shutdown überbrücken können: Bei der Stromversorgung fällt das zum Beispiel eher schwer. Und viertens: Wie gut lassen sich die Arbeitenden - in Bezug auf Hygiene, Abstandsregeln und Schutzmasken - vor einer Ansteckung bewahren? Wahrscheinlich ist, dass hoch automatisierte Branchen die genannten Kriterien am ehesten erfüllen können.

Das heißt, die Firmen sollen selbst entscheiden, wann sie wieder hochfahren?

Wir haben lange darüber debattiert, ob man das vorgeben kann. Am Ende hatten wir das Gefühl, dass die Planwirtschaft schon des Öfteren nicht funktioniert hat; und sie wird auch an dieser Stelle nicht funktionieren. Vieles kann man von außen gar nicht beurteilen.

Die Biergarten-Saison hat gerade begonnen. Was die Öffnung der Gastronomie angeht, ist Ihr Stufenplan besonders vorsichtig. Warum?

Weil das Orte der explosionsartigen Vermehrung von Infizierten sein können. Besonders gefährlich wird es immer dort, wo viele Leute zusammenkommen, die sonst nicht zusammenkommen würden. Am schlimmsten sind Massenveranstaltungen. Vor allem, wenn die Leute sich dann noch sehr viel bewegen und mit vielen in Kontakt kommen. Ein einzelner Teilnehmer - ein sogenannter Superspreader - kann dort Hunderte andere Menschen anstecken. Davor muss man sich fürchten. Denn in der Gegend, wo so etwas passiert, kommt das Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen.

Auch beim Tourismus sehen Sie Gefahren. Sollten Familien ihre Reisepläne für die Sommerferien vorsorglich auf Eis legen?

Das ist schwer zu sagen, weil wir den weiteren Verlauf so schlecht einschätzen können. Aber ich persönlich habe noch keine Reisepläne gemacht.

Was halten Sie denn von dem Vorschlag, die Ferien zu verlegen?

Es könnte zumindest eine gewisse Planungssicherheit geben. Aber den Sommer kann man nicht einfach verschieben. Ich kann mir derzeit nicht vorstellen, dass die Epidemie bis zum Sommer durch ist. Im Gegenteil: Wenn wir uns jetzt nicht in einem der Parameter - zum Beispiel bei der Zahl der Leute, die die Krankheit schon gehabt haben - verschätzen, wird die Epidemie eher bis weit ins nächste Jahr hinein andauern.

Kritiker monieren, dass die Politik zu viel auf Virologen höre. Was sagen Sie denen?

Im Moment ist es klug, so viel Expertise zusammen zu kriegen wie möglich. Gerade am Anfang brauchten wir die Virologen. Aber es ist auch wichtig, dass wir demokratische Prinzipien einhalten. Entscheidungen müssen von der Politik gefällt werden. Ein wesentliches Anliegen unseres Papiers war deshalb, dass sich die verschiedenen anderen Disziplinen - außer Virologie und Medizin - Gehör verschaffen können. Mein Eindruck ist, dass die Bevölkerung froh ist über jede Information und begründete Meinung.

Weiß denn die Bundesregierung von Ihrem Stufenplan?

Ja, es gibt auch schon Reaktionen darauf.

Und wie fallen die aus?

Ich glaube, es ist ein wichtiger Denkanstoß. Davon gibt es im Moment sehr viele aus verschiedenen Richtungen. Die Frage, wie es nach dem Shutdown weiter geht, steht nach meinem Gefühl gerade ganz weit oben auf der Agenda.

Was wird nach Ostern passieren? Wird es Lockerungen geben?

Ich denke, es wird einen Fahrplan geben. Im Moment sammeln wir mit großer Geschwindigkeit neue Erkenntnisse. Um bestimmte Schritte einzuleiten, ist das wesentlich. Es wird schwer werden, diese Schritte mit Daten zu versehen - denn niemand weiß, wie sich das Geschehen entwickelt. Aber wir müssen jetzt schon diese Schritte gut vorbereiten, damit sie dann kommen können.

Mit Martin Lohse sprach Judith Görs

Quelle: ntv.de

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