Politik

Brexit, Beerdigung und Corona Der Frieden in Nordirland ist in akuter Gefahr

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Belfast 2021. Es könnte auch 1980 sein.

(Foto: dpa)

Das Nordirland-Protokoll sollte nicht nur Verkehr und Handel zwischen Großbritannien und Irland nach dem Brexit regeln. Es sollte auch verhindern, dass alte Konflikte auf der Insel wieder aufflammen. Dass dies nicht funktioniert hat, ist keine Überraschung.

Erschreckend vertraute Szenen haben sich in den vergangenen Nächten in Belfast und Derry abgespielt. Benzinanschläge, Straßenblockaden, Angriffe auf Polizisten - all das erinnert an eigentlich vergangene Konflikte von vor vierzig Jahren. Verunsicherungen sowohl durch den Brexit als auch die Corona-Politik lassen die Gewalt im Norden der Insel nun wieder hochkochen.

Während der gesamten vergangenen Woche gerieten nationalistische und loyalistische Jugendliche im Westen Belfasts aneinander. Dabei kam es wiederholt auch zu Angriffen auf die Polizei und zu Ausschreitungen.

Am Mittwochabend wurde ein Bus entführt und in Brand gesetzt. Ein Pressefotograf wurde angegriffen. Manche unter den Gewalttätern sind nicht älter als zwölf Jahre. "Es ist besonders beunruhigend, dass Kinder benutzt werden, um diese Gewalt zu orchestrieren", sagt der irische Minister für europäische Angelegenheiten, Thomas Byrne.

"Es liegt in der Verantwortung aller politischen und kommunalen Entscheidungsträger, die Situation zu beruhigen, bevor jemand ernsthaft verletzt oder getötet wird", so Byrne. Auch der irische Außenminister Simon Coveney verurteilt die Gewalt. Dem Sender RTÉ sagte er, die Bilder der Gewalt auf den Straßen seien "schockierend" und solche, von denen er dachte, dass sie in die Geschichte eingegangen seien.

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Die Angriffe richten sich auch gegen die sogenannten Peace Lines, die protestantische und katholische Nachbarschaften in Belfast voneinander trennen.

(Foto: AP)

Denn die Fotos, die aktuell in den irischen und britischen Zeitungen erscheinen, könnten auch ein Rückblick auf die Jahre 1968 bis 1998 in Nordirland sein. Dreißig Jahre lang herrschte auf der Insel ein bürgerkriegsartiger Identitäts- und Machtkampf zwischen Protestanten, die als Unionisten oder Loyalisten ein Teil des Vereinigten Königreichs Großbritannien bleiben wollen, und den Katholiken, die sich als Republikaner oder Nationalisten für ein vereinigtes Irland einsetzen.

Auslöser war ein Trauermarsch

Der Konflikt kostete zirka 3000 Menschen das Leben und fand erst Ende der 90er Jahre mit dem Karfreitagsabkommen ein Ende. Doch nun wird deutlich, wie fragil diese Einigung eigentlich ist.

Schon in den vergangenen Wochen und Monaten gab es immer wieder Meldungen aus Nordirland über Drohungen von Paramilitärs gegen Politiker und Journalisten. Auslöser der Gewaltausbrüche ist zum einen der Umgang der nordirischen Polizei mit Verstößen gegen die Corona-Maßnahmen durch die Partei Sinn Féin, die in der Zeit der Unruhen als politischer Arm der Terrororganisation IRA fungierte und heute der nordirischen Allparteien-Regierung angehört. Bei der Beerdigung früheren IRA-Mitglieds Bobby Storey im Juni 2020 hatten 24 Mitglieder der Partei, darunter Vize-Ministerpräsidentin Michelle O'Neill von Sinn Féin, gegen die damals geltenden Covid-19-Vorschriften verstoßen. Dennoch entschied die Staatsanwaltschaft kürzlich, die Politiker nicht strafrechtlich zu verfolgen.

Begründet wurde dies vom Leiter der Staatsanwaltschaft, Stephen Herron, damit, dass es keine begründete Aussicht auf eine Verurteilung gab, da jede der anwesenden Personen auf einen Mangel an Klarheit in Bezug auf widersprüchliche und sich ständig ändernde Covid-Vorschriften hinweisen konnte, die zur Zeit der Beerdigung in Kraft waren. Außerdem habe es im Vorfeld der Veranstaltung eine Absprache mit der Polizei gegeben.

Zumindest der protestantische Teil der Bevölkerung fühlt sich von diesen Vorgehensweisen und Äußerungen verhöhnt und nicht ernst genommen. Hinzu kommt der wohl schwerwiegendere Destabilisator des Friedens in Nordirland: der Brexit. Die Beziehung zwischen Großbritannien und Irland war einer der Hauptpunkte, der geklärt werden musste, bevor das Vereinigte Königreich aus der EU austreten konnte.

Der Brexit stört die Ruhe im Norden

Lange Zeit sah es so aus, als würde der Brexit zu einer "harten Grenze" führen. Dann wäre zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland eine fast 500 Kilometer lange EU-Außengrenze entstanden. Das hätte nicht nur Handel und Verkehr kompliziert gemacht, sondern vor allem das Risiko zurückkehrender Spannungen und Unruhen auf der irischen Insel stark erhöht. Denn seit dem Karfreitagsabkommen ist die einst gesicherte Grenze auf der irischen Insel im Leben der Menschen kaum noch spürbar.

Um das Konfliktpotenzial möglichst kleinzuhalten, wurde schließlich ein Kompromiss gefunden. Das nun geltende Nordirland-Protokoll soll einen reibungslosen Warenaustausch zwischen den Ländern regeln und eine offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik ermöglichen.

Doch so reibungslos wie geplant lief es dann doch nicht ab. Schon kurz nach dem Brexit Anfang Januar gab es Meldungen von leeren Supermarktregalen in Nordirland. Einige Wochen später, Ende Januar, drohte die EU-Kommission den Export von Vakzinen an der EU-Außengrenze zu kontrollieren.

Kurz darauf kamen die ersten Drohungen gegen irische Politiker und Journalisten - mit Graffiti auf Wände in Belfast gemalt. Nun spitzt sich die Lage immer weiter zu und erinnert mehr und mehr an den Nordirlandkonflikt. Damit tritt genau das ein, was vor dem Brexit befürchtet worden war und durch das Nordirland-Protokoll eigentlich vermieden werden sollte, auch wenn Brexit-Befürworter wie der britische Premier Boris Johnson diese Gefahr stets abgestritten hatten.

Labiler Frieden

Mit starker Polizeipräsenz, Wasserwerfern und Polizeihunden wird nun versucht, die nächtlichen Unruhen zu unterdrücken. Am Donnerstagabend besprachen zudem Johnson und der irische Ministerpräsident Michaél Martin die "besorgniserregenden Entwicklungen".

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Anschließend hieß es in einer Erklärung der irischen Regierung, dass beide Politiker "zur Ruhe aufriefen" und betonten, Gewalt sei inakzeptabel. "Der Weg nach vorne führt über den Dialog und die Arbeit in den Institutionen des Karfreitagsabkommens", hieß es in der gemeinsamen Erklärung.

Das Abkommen jedoch hat den Nordirland-Konflikt offenbar nicht beseitigt, sondern nur geholfen, eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten halbwegs leben können. Wie labil der Frieden ist, zeigen die aktuellen Entwicklungen. Das nordirische Regionalparlament wurde vorzeitig aus den Osterferien zurückgerufen, um zu beraten, wie man nun weiter mit den Straßenschlachten umgehen soll.

Quelle: ntv.de

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