Nadja Kriewald aus Kiew "Die Friedhöfe sind voll mit frischen Gräbern"
24.02.2023, 11:25 Uhr Artikel anhören
Viele neue Gräber auf dem Friedhof Lisove in Kiew.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
ntv-Reporterin Nadja Kriewald berichtet aus der Ukraine. Bei ntv.de schildert sie ihre Eindrücke von der Lage im Land. Dass es beispielsweise in Kiew überraschend normal zugeht - solange man nicht auf die Friedhöfe schaut.
ntv.de: Nadja, wie ist es, jetzt in Kiew zu sein?
Nadja Kriewald: Die Stimmung hier ist deutlich normaler, als ich es erwartet hatte. Als wir vor einem Jahr hier waren, war die Stadt wie ausgestorben. Die Menschen lebten in großer Angst und Ungewissheit. Jetzt dagegen ist eine Art von Routine eingetreten. Die Menschen hier in Kiew gehen ganz normal zur Arbeit, gehen abends in Restaurants, Theater sind offen. Sie versuchen dem Krieg zu trotzen und sagen: Wir lassen uns unser Leben nicht wegnehmen. Wir haben mit Menschen gesprochen und da haben wir wenig Angst wahrgenommen.
Trotz regelmäßiger Luftalarme?
Die Menschen haben sich daran gewöhnt. Sie gehen nur in den seltensten Fällen in den Luftschutzraum.
Warum das?
Weil es eine App gibt, die zeigt, was auf sie zukommt. Sind es Kampfflugzeuge, Drohnen oder Raketen? Sind es Raketen, die auf Kiew abgeschossen wurden, gehen die Leute schon in den Keller. Bei allem anderen kehrt eine Routine ein. An manchen Tagen gibt es ja mehrmals Luftalarm. Man kann nicht immer alles unterbrechen und in den Keller gehen. Natürlich ist das eine große Gefahr. Denn wenn dann das eigene Haus getroffen wird, gibt es viele Tote und Verletzte.
Wie macht sich der Krieg noch bemerkbar?
Schulen und Universitäten machen vielfach Online-Fernunterricht. Aus Angst und weil viele Gebäude zerstört wurden. Ab 23 Uhr gibt es eine Ausgangssperre. Restaurants und Supermärkte schließen deutlich früher als zu Friedenszeiten. Aber es ist definitiv anders als vor einem Jahr.
Ist der Jahrestag ein Thema für die Menschen?
Ja, für sie ist es eine Gelegenheit, zu trauern. Um all die gefallenen Soldaten, um die Zivilisten. Jeder kennt inzwischen jemanden, der getötet worden ist. Jeder kennt Männer, die an der Front sind. Die Friedhöfe hier sind voll mit frischen Gräbern, egal in welcher Stadt. Da werden immer neue Areale eröffnet. Man sieht an den Fotos und an den Geburtsdaten, dass unglaublich viele junge Männer gestorben sind. Die Trauer wiegt hier viel schwerer als die Angst.
Russland greift besonders die Strom- und Energieversorgung an. Wie nimmst du die Versorgung wahr?
In Kiew ist sie gerade relativ stabil, aber in Charkiw wurde gerade wieder die Infrastruktur so stark beschädigt, dass 40.000 Menschen ohne Strom sind. In Odessa gibt es auch viel mehr Stromunterbrechungen. Aber auch da ist eine gewisse Routine eingekehrt. Es werden normalerweise Zeiten angekündigt, an denen der Strom abgeschaltet wird. Dann kann man sich darauf einstellen und zum Beispiel die Waschmaschine mitten in der Nacht in Gang setzen. Da sind die Ukrainer sehr flexibel. Aber natürlich zehrt das an den Nerven.
Wie groß ist die Hoffnung auf Frieden?
Ich glaube, alle sind sich bewusst, dass das hier noch lange dauern wird. Der Krieg wird nicht in ein paar Monaten vorbei sein. Momentan sind die ukrainischen Kräfte eher in der Defensive. Im September und Oktober war hier die Stimmung ganz anders. Da hatten die Ukrainer weite Gebiete zurückerobert. Da herrschte hier Euphorie. Im Moment sieht es schlecht aus. Den befreiten Gebieten droht nun eine erneute Eroberung durch Russland. Das führt natürlich zu Frust und Resignation. Man weiß eben, wie viele Menschenleben davon betroffen sind. Trotzdem glauben die Allermeisten fest an den Sieg. Sie glauben, dass sie einfach gewinnen müssen. Es sind so viele Menschen gestorben, sie haben so viel Leid erfahren und deswegen müssen sie einfach weitermachen, meinen sie. Sie sagen, sie seien es denen schuldig, die schon gefallen sind. Ein junger IT-Entwickler sagte mir: "Wir werden alle eingezogen werden. Ich, meine Freunde, alle. Wir werden alle kämpfen müssen." Das wird ein Marathon, kein Sprint.
Wie äußern sie sich zur Hilfe aus Deutschland und dem Westen?
Sie wollen natürlich immer mehr als sie bekommen. Das Material wird auch benötigt, sie brauchen Kampfpanzer, Kampfflugzeuge und Munition. Trotzdem sind wir als deutsche Journalisten immer noch sehr wohl gelitten. Jeder scheint Verwandte oder Freunde zu haben, die irgendwo in Deutschland sind. Sie wissen, dass sie dort sehr gut behandelt werden und gut aufgenommen worden sind. Dafür sind sie sehr dankbar. Aber was die Waffen angeht, sagen sie: "Liefert uns mehr. Wir verteidigen auch eure Freiheit."
Wie ist dein Eindruck, wie lange halten die Ukrainer noch durch?
Ich denke noch lange, weil sie wissen, was sie verteidigen. Und sie haben gesehen, was passiert, wenn sie von Russland besetzt würden. Nicht nur in Irpin, Butscha und Budjanka. Die Russen haben sehr viele Kriegsverbrechen begangen. Auch darüber wird viel gesprochen. Auch deshalb wollen sie die Gebiete, die jetzt noch besetzt sind, befreien. Das sind immerhin 18 Prozent des Landes. Sie richten sich darauf ein, dass da noch viele Gräueltaten ans Licht kommen. Sie wissen, dass sie nicht nur ihre Freiheit, sondern viele auch ihr Leben verlieren würden, wenn Russland ihr Land besetzt.
Mit Nadja Kriewald sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de