Politik

Interview mit Michael Ortmann "Die Gemengenlage in Frankreich ist explosiv"

lahouaiej.JPG

Bis zu 5000 Gefährder halten sich in Frankreich auf. War der Anschlag in Nizza islamistisch motiviert? Schwer zusagen, meint Terrorismus-Experte Michael Ortmann. Das religiöse Wissen vieler Attentäter sei gleich null.

n-tv.de Wieder erschüttert ein Anschlag Frankreich. Lassen Sie uns zunächst über den Attentäter sprechen. Er soll 31 Jahre alt sein, aus der Region um Nizza stammen und tunesische Wurzeln haben. Aber bisher ist nichts über eine politische Radikalisierung bekannt. Was kann man trotz der wenigen Informationen an Schlussfolgerungen daraus ziehen?

Michael Ortmann: Noch kann man nur mutmaßen. Es gibt einige Dinge, die nicht so ganz ins klassische Konzept eines Islamisten passen. Beispielsweise sollen sich im Fahrzeug Waffenattrappen befunden haben. Das erschließt sich mir im Moment noch gar nicht und ist sehr schwer einzuordnen. Und was auch etwas auffallend ist: Mit 31 Jahren ist er quasi schon etwas älter; die meisten Attentäter sind deutlich jünger.

Also eher kein islamistischer Anschlag?

Das würde ich nicht sagen. Denn auf der anderen Seite spricht auch einiges für einen möglicherweise islamistischen Hintergrund. Das ist zum einen dieser doch sehr gewichtige Tag, ein symbolischer Tag, an dem man – das wäre der zweite Aspekt – ein wirklich menschenverachtendes, wahlloses Blutbad anrichtet. Das spricht auch so ein bisschen die Sprache. Was nicht ungewöhnlich ist, ist, dass wir es oftmals mit nicht großartig religiös aufgefallenen Menschen zu tun haben. Wir haben es fast überwiegend immer mit Kriminellen zu tun, mit Menschen, die eine kriminelle Vita haben, oftmals als Kleinkriminelle. Aber in der Regel ist das religiöse Wissen bei den meisten Attentätern gleich null. Also es gibt noch ein paar Fragezeichen, aber es gibt eben auch ein paar Hinweise, die es tatsächlich wahrscheinlicher machen, dass es sich hier um einen islamistisch motivierten Anschlag handelt.

Wenn wir uns den Ablauf dieser Tat anschauen - was spricht dafür, dass es ein Einzeltäter war? Was spricht dafür, dass auch eine kleinere Gruppe dahinterstecken könnte?

Auch da können wir jetzt im Moment nur mutmaßen. Ich glaube, ein bisschen drängt sich auf, dass es sich eher um eine kleinere Gruppierung handelt. Denn es ist ja schon ein logistischer Aufwand, der betrieben wurde. Der ist nicht ungeheuer groß, aber es müssen Waffen organisiert werden. Einen Lkw zu organisieren ist relativ einfach. Aber man muss ja den Bereich auskundschaften. Man muss wissen: Wie sieht das am Abend aus? Werden dort beispielsweise Straßensperren sein, die ich mit einem Lkw nicht umfahren kann? Wie viel Polizei wird vor Ort sein? Wie weit werde ich kommen? Also es gibt so ein bisschen logistischen Aufwand und Beobachtungsaufwand, den man betreiben muss und in der Regel ist es so: nur in den seltenen Fällen haben wir es mit einzelnen Tätern zu tun. Oftmals gibt es immer noch den Freund und einen Bekannten, der ein bisschen wusste und eine weitere Person, die etwas mitgeholfen hat. Im Moment würde ich sage, es ist eher eine kleinere Gruppe.

Wenn wir mal auf das große Ganze gucken, warum steht Frankreich gerade so im Fokus von Anschlägen?

Frankreich hat eine lange Zeit viel verkehrt gemacht. Man hat es zugelassen, dass in den Randbezirken der Großstädte Gettos entstehen, in denen eigene Gesetze gelten, in denen es mehr Kriminalität gibt, in denen Gangs das Sagen haben, in denen Hassprediger zugegen sind, in denen es sehr radikale Strukturen und radikale Moscheen gibt. Man hat zu gelassen, dass in den Gefängnissen so eine Zwei-Klassen-Gesellschaft etabliert wurde. Muslime stehen dort ganz weit unten und werden teilweise zusammengepfercht. Also, man hat sehr viel verkehrt gemacht und jetzt erst entdeckt man, dass man vielleicht doch im Bereich der Prävention viel mehr machen muss.

Aber das hilft ja aktuell nicht weiter.

Richtig. Das ist natürlich etwas, was erst langfristig greift. Jetzt im Moment setzt man eher auf die quasi rechtsstaatliche Bekämpfung des Terrorismus und da hat man schon genug zu tun. Man weiß, in Frankreich gibt es 5000 Gefährder. Davon sind 2000 in etwa – das sind nicht so in Stein gemeißelte Zahlen, aber in etwa die Richtung zeigen sie an – in islamistischen Netzwerken organisiert. Wir haben über 2000 Ausreisen in die Kriegsgebiete. Wir haben viele Menschen, die in den Kriegsgebieten, knapp 700, an Waffen ausgebildet wurden und wir haben viele, die eben jetzt schon wieder hier sind. Aus dieser ganzen Gemengelage entsteht ein sehr explosives Bild in Frankreich.

Frankreich steht jetzt wieder unter Schock. Wie müssen wir uns das vorstellen, wie gehen die Ermittler jetzt vor? Was machen die nach so einem Attentat?

Jetzt geht es in erster Linie darum, zu schauen: Wer ist diese Person? Wer ist der Attentäter? Das heißt: Wo hat er gewohnt? Gibt es dort einen Computer? Welche Daten finden sich darauf? Man wird seine Handydaten auswerten. Man wird so aufgrund der Handydaten möglicherweise Bewegungsprofile erstellen können. Man wird feststellen können, mit wem hat er korrespondiert. Man wird schauen: Wer hat die Wohnung gemietet? Wer hat den Lkw gemietet? Wo kommt die Waffe her? Das heißt, es beginnt die große kriminaltechnische Aufarbeitung des Anschlags. Bis man dann tatsächlich konkrete Ergebnisse hat, wird es bestimmt noch dauern.

Mit Michael Ortmann sprach Oliver Beckmeyer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen