Schiefe Statistik Die (Kinder-)Armut wird immer schlimmer? Falsch!


"Nicht mit dem Sozialstaat oder Deutschland läuft etwas schief. Sondern mit der Armutsstatistik."
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Kinderarmut ist ein besonders emotionaler Aspekt der Erzählung vom guten Sozialstaat, dem leider das Geld fehlt, um noch besser zu sein. Aber die Erzählung ist falsch. Der Sozialstaat "verfestigt" die Kinderarmut nicht, er funktioniert.
In unserer wohlstandssaturierten Gesellschaft sitzt kaum etwas so tief wie das Gefühl wachsender Ungerechtigkeit und die Angst um den Sozialstaat. "Die Schere geht immer weiter auf", das wird weithin ehrfürchtig geglaubt. "In einem so reichen Land wie Deutschland wächst die Kinderarmut", das macht große Bevölkerungsgruppen so schuldbewusst wie ausgabentolerant. Und das soll es auch.
Der alles - und damit auch die Demokratie - beschützende, aber stets angeblich bedrohte Sozialstaat ist vielleicht die letzte große Erzählung, die der deutschen Sozialdemokratie, Teilen der Grünen und neuerdings auch dem Bündnis Sahra Wagenknecht geblieben ist. Für diesen Kampf um Gerechtigkeit braucht es: Ungerechtigkeit und Armut. Und ganz besonders, auch wenn es zynisch klingt: wachsende Armut.
"Wer Demokratie will, darf nicht die Sozialleistungen runterschrauben"
Gewiss: Eine auf Sicherheit bedachte Gesellschaft wie die deutsche braucht für ihren Zusammenhalt einen Sozialstaat, der gegen die individuellen Abstürze im Leben absichert. Die Katastrophe der nationalsozialistischen Machtübernahme wird zu Recht auch auf die soziale Katastrophe von Massenarbeitslosigkeit und millionenfacher Verelendung in der Weimarer Republik zurückgeführt. Deutschland kann darum ohne Sozialstaat nicht das Deutschland sein, das es sein will: der immer noch feste Anker in der Mitte der Europäischen Union.
Aber ist der deutsche Sozialstaat deshalb selbsterklärend und so, wie er ist, über jeden Zweifel erhaben? Ist es so, wie die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi einmal in entwaffnender Klarheit sagte: "Wer Demokratie will, darf nicht die Sozialleistungen runterschrauben." Woraus ja zu folgern wäre: Je mehr Geld für den Sozialstaat fließt, umso gerechter wird das Land und umso sicherer seine Demokratie.
Kinderarmut, ist das nicht ein besonders emotionaler Aspekt der Erzählung vom guten Sozialstaat, dem leider das Geld fehlt, um noch besser zu sein? Antwort: Nein. Die Zahl der Kinder, die Hartz IV oder Bürgergeld beziehen, ist mit rund zwei Millionen seit 2015 ziemlich konstant geblieben, wenngleich sich die Zusammensetzung dieser Gruppe maßgeblich verändert hat - und zwar zum Besseren.
Die staatliche Bundesagentur für Arbeit erklärt, dass seit 2015 konstant rund zwei Millionen Kinder über ihre Eltern Hartz IV oder Bürgergeld erhielten. Das sieht wie eine "Verfestigung" aus, und darum arbeiten Lobbygruppen gern mit diesen Zahlen. Allein: Die Zusammensetzung dieser Gruppe hat sich drastisch verändert. Fast ein Drittel der Kinder, die 2015 Hartz IV bezogen, tun es 2023 und 2024 nicht mehr. Vermutlich haben ihre Eltern reguläre Arbeit gefunden.
Falsche Wahrheit, falsche Politik
Zugleich brachten die zwei großen Wellen seit 2015 eine nahezu gleich große Zahl von mehreren Hunderttausend Flüchtlingskindern neu in die Gruppe der Hartz-IV-Empfänger und damit in die Armutsstatistik. Es hat also nicht ein versagender Sozialstaat die Kinderarmut skandalös "verfestigt", sondern der Sozialstaat hat zweifach gut funktioniert. Viele arme Kinder haben (mit ihren Eltern) Hartz IV hinter sich gelassen. Und viele mittellose Flüchtlingskinder fanden im deutschen Sozialsystem einen sicheren Hafen. Und das soll eine dysfunktionale Kindergrundsicherungs-Reform und viel mehr Geld für den Sozialstaat begründen? Nein: Nicht mit dem Sozialstaat oder Deutschland läuft etwas schief. Sondern mit der Armutsstatistik. Falsches Framing, falsche Wahrheit, falsche Politik, q. e. d.
Als der Finanzminister im weiteren Verlauf der Debatte auf den Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Migration hinweist, treiben es Grüne, Linke sowie ein Wirtschaftsprofessor auf die Spitze und rücken ihn in eine Ecke mit den Ausländerfeinden. Ja, die millionenfache Flucht-Zuwanderung hat Deutschland statistisch ärmer gemacht, weil sie bestimmte Durchschnittswerte bei Löhnen, Vermögen und Armut verändert. Aber für alle, die schon da sind, bedeutet diese Veränderung in der Statistik: nichts.
Das sollte bedenken, wer von links der Mitte vor allem mit dieser "Armut" argumentiert - er betreibt das Geschäft der Rechtsaußen. Die nämlich finden, dass die Fremden allesamt lieber aus Deutschland verschwinden sollten, weil sie die Bio-Deutschen, Achtung: "ärmer machen". Wer also die sozialen Probleme groß redet, um den Sozialstaat größer zu machen, der treibt die Bürger geradewegs in jenen Frust, den die rechten und neuerdings auch linken Populisten leider am besten abzurahmen wissen. Doch die meisten Sozialpolitiker, gleich welcher Partei, haben diesen Schuss nicht gehört, ihr Antrieb bleibt derselbe: mehr Geld beschaffen, mehr Geld für das System. Dass das System selbst ein Problem haben könne, darauf kommen sie nur selten.
Inzwischen existieren nach einer verdienstvollen Zählung des "Spiegel" verschiedene Sozialleistungen, die von 29 Behörden in 16 Bundesländern und 400 Städten und Kreisen verwaltet, zugleich aber auch von sieben Bundesministerien politisch verantwortet werden. Das "Kindergeld" und das "Teilhabepaket" sind demnach Sache des Arbeitsministeriums, der gegebenenfalls hinzutretende "Kinderzuschlag" sowie der "Unterhaltsvorschuss" gehören in den Bereich des Familienministeriums. Falls Anspruch auf "Baukindergeld" besteht, tritt das Bauministerium hinzu. Um das wenigstens für die Kinder zu glätten, veranschlagte die grüne Familienministerin Lisa Paus in ihrer Kindergrundsicherung zunächst 5000 zusätzliche Beamte, um die "Holschuld" der Bedürftigen in eine "Bringschuld" des Staates zu verwandeln. Im Klartext: Um den Sozialstaat zu vereinfachen, sollte es eine neue Behörde und 5000 neue Beamte brauchen. Da stieß das große Armuts- und Ungerechtigkeitsframing an seine politische Belastungsgrenze. Die Reform wurde sogar noch vor dem Scheitern der Regierung begraben.
Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Falsche Wahrheiten: 12 linke Glaubenssätze, die unser Land in die Irre führen" von Nikolaus Blome. Der Autor ist Politikchef von RTL und ntv.
Quelle: ntv.de