Lehren aus der Geschichte Das Asylrecht schützt die Schwachen? Falsch!


Asyl nach Artikel 16a Grundgesetz erhält fast niemand zugesprochen, denn das ist bei Einreise aus einem sicheren Nachbarland nahezu ausgeschlossen.
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Das Asylrecht schützt überwiegend die vergleichsweise Starken. Wollen wir wirklich unsere demokratische Verfasstheit einer Partei zum Fraß vorwerfen, weil das Wetter auf dem Mittelmeer gerade für Überfahrten günstig ist oder Putin den nächsten Krieg vom Zaun bricht?
Im vergangenen September sagte Olaf Scholz im Bundestag: "Wir sind ein Land - gerade aufgrund der Erfahrungen, die wir durch unsere Geschichte mit uns herumtragen, der Tragödie des Faschismus und des Nationalsozialismus -, das denjenigen, die politisch verfolgt werden, die um ihr Leben laufen, die ihr Leben retten müssen, Schutz bietet. Das steht in unserem Grundgesetz, und das stellen wir nicht zur Debatte."
Stärker kann ein Framing kaum sein, was sich die entsprechenden Milieus und Interessengruppen selbstverständlich seit jeher zunutze machen. Das meine ich nicht abschätzig, aber zur Wahrheit gehört nun einmal, dass es aufgrund unserer Geschichte so schwierig ist, das Asylrecht zu ändern - auch wenn es der Änderung bedürfte. Das deutsche Asylrecht verkommt inzwischen zum sozialdarwinistischen "Survival of the Fittest": Nur wer die Schlepper, die Boote und die Zäune oder die Polizeigewalt überlebt, um mit dem eigenen Körper deutschen Boden zu erreichen, der kann hier Asyl beantragen - und darf in ungefähr neun von zehn Fällen am Ende bleiben, egal, ob seinem ursprünglichen Asylantrag stattgegeben wird oder nicht. Das ist der einzige "Pull-Faktor", der wirklich zählt: In Deutschland darf bleiben, wer Deutschland erreicht. Wer das ist? Meistens Männer, junge Männer.
In den ersten drei Quartalen 2024 stammen knapp 70 Prozent aller Asylanträge von Männern. Mehr als die Hälfte von ihnen sind im Alter von 16 bis 35 Jahren, in diesen Altersgruppen sind nur 15 bis 30 Prozent der Antragsteller Frauen. Nur diese jungen Männer machen allein 40 Prozent aller Asylanträge insgesamt aus. Das bedeutet: Wider seinen so vornehmen Geist schützt das deutsche Asylrecht nicht die Schwachen, sondern ganz überwiegend die vergleichsweise Starken.
Mit der Migration steigt und fällt die AfD
Auf den zweiten Blick lässt sich hinzufügen: Asyl nach Artikel 16a Grundgesetz erhält fast niemand zugesprochen, denn das ist bei Einreise aus einem sicheren Nachbarland nahezu ausgeschlossen. In den ersten neun Monaten 2024 sind es 1436 Fälle unter den insgesamt 228.000 gefällten "Entscheidungen über Asylanträge", wie die Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ausweist. Gut 29.000-mal wird der Status "Flüchtling" zugesprochen, in 60.000 Fällen die nächstniedrigere Schutzstufe namens "subsidiärer Schutz". Das heißt, dass es in diesen Fällen keine individuelle politische Verfolgung gibt, keinen Grund für einen Aufnahmeanspruch als Flüchtling nach Genfer Konvention, aber im Heimatland dennoch eine ernsthafte Gefahr besteht. Für fast 16.000 Personen gibt es immerhin noch einen Abschiebeschutz, was im Klartext heißt: Es gibt für sie eigentlich keinerlei Recht, zu bleiben, aber auch keinen Weg zurück, wohin auch immer.
Weitere 65.000 Fälle werden laut Statistik als "unbegründet" oder "offensichtlich unbegründet" abgelehnt - was freilich vier bis fünf Mal so viele sind, wie im selben Zeitraum tatsächlich abgeschoben wurden. Und nun mal ehrlich: Deutschland und Europa leisten sich das vermutlich großzügigste Asylrecht der Welt - aber sie unternehmen inzwischen sehr, sehr viel, damit es möglichst wenig Menschen in Anspruch nehmen. War es das, was die noblen Schöpfer des Grundgesetzes im Sinn hatten? Und wenn es das nicht war: Warum wird mit ihrem angeblichen Geist weiterhin gegen jede Änderung des Asylrechts gemauert, die wenigstens den Versuch unternehmen könnte, der manifesten Fehlsteuerung abzuhelfen?
Gemessen am jahrelangen Auf und Ab der AfD gibt es kein zweites Thema, das seit der ersten Flüchtlingskrise ihre Ergebnisse so berechenbar treibt oder dämpft wie das Bündel Flucht / Asyl / Zuwanderung. Als die Euro-Krise mit dem endgültigen Verbleib Griechenlands im Euro ausklang, sackte die AfD im ZDF-Politbarometer unter die Fünf-Prozent-Marke und erholte sich erst im Herbst wieder - als die Flüchtlingskrise massiv durchdrang. Als sich die Flüchtlingszahlen stabilisierten und sanken, sanken auch die AfD-Werte wieder deutlich auf Werte unterhalb der zehn Prozent. Der Asyl- und Zuwanderungsstreit führte 2018 fast zum Bruch der letzten Regierung Merkel, auch das ließ die AfD-Werte steigen: dieses Mal auf bis zu 16 Prozent im Oktober 2018. Als der Streit vorerst beigelegt war und die Zahl der Asylsuchenden weiter sank, pendelte die AfD bis zum Frühsommer 2022 erst um Werte von 13 Prozent, später um zehn Prozent. Erst der Ukraine-Krieg, die neuerliche Flüchtlingswelle sowie die Energiepreis-Explosion trieb sie wieder sanft nach oben - mit einem besonderen Höhepunkt um die 20 Prozent im Gefolge des Heizungsgesetzes im Verlauf des Jahres 2023. Knapp darunter liegen sie - nach einem langen Zwischentief - Ende 2024 erneut wieder.
Kurzum: Die Konstante ist das Motiv-Bündel Asyl / Flucht / Zuwanderung. Wollen wir also unsere demokratische Verfasstheit einer Partei und ihrem Ressentiment zum Fraß vorwerfen, weil das Wetter auf dem Mittelmeer gerade für Überfahrten von Armutsflüchtlingen günstig ist oder Wladimir Putin den nächsten Krieg vom Zaun zu brechen beliebt? Oder wollen wir das deutsche Asylrecht seiner ehrbaren, aber überholten Wahrheiten entkleiden, um es der aktuellen Lage der Dinge anzupassen? Die Starken zu schützen, die Falschen im Land zu halten und die Gesellschaft zu spalten - das jedenfalls schulden die Deutschen der Welt nicht, finde ich, wenn es um die richtigen Lehren aus der eigenen Geschichte geht.
Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Falsche Wahrheiten: 12 linke Glaubenssätze, die unser Land in die Irre führen" von Nikolaus Blome. Der Autor ist Politikchef von RTL und ntv.
Quelle: ntv.de