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Reisners Blick auf die Front "Die Russen haben in den letzten Monaten dazugelernt"

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Die Russen haben in der Luftverteidigung noch immer einen Vorteil gegenüber der Ukraine.

Die Russen haben in der Luftverteidigung noch immer einen Vorteil gegenüber der Ukraine.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Die Gegenoffensive der Ukrainer läuft seit über zwei Wochen, ein Durchbruch gelang ihnen bislang nicht. Kiew sieht sich deshalb gezwungen, eine "operative Pause" einzulegen, um ihre militärische Strategie den Taktiken der Russen neu anzupassen, sagt Oberst Markus Reisner. Die hätten aus ihren Fehlern der vergangenen Monate gelernt. Vor allem im Landraum führten die Russen ihre Angriffe synchronisierter durch als vorher. Das große Manko der Ukraine bleibe nach wie vor der Luftraum: Es fehle an potenten Luftstreitkräften und Fliegerabwehr.

ntv.de: Seit dem Beginn der Offensive stoßen die Ukrainer auf heftigen Widerstand. Was genau haben die Russen denn an ihrer militärischen Taktik verändert, was sie davor nicht gemacht haben?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: Im Militär gibt es verschiedene Domänen der Kriegsführung: der Landraum, der Luftraum, der Weltraum, der Informationsraum und der Cyberraum. Auffällig ist, dass in der Domäne Land, wo die Russen gerade in den ersten Monaten immer wieder schwere Fehler gemacht haben, sie sich langsam beginnen anzupassen. Sie haben aus den Erfahrungen der letzten Monate gelernt, das sieht man sehr deutlich. Die Landdomäne hat unterschiedliche Fähigkeiten und es geht immer darum, diese zum Zusammenwirken zu bringen. Es gibt den Begriff "Kampf der verbundenen Waffen": Das bedeutet, dass alle Waffengattungen eine Rolle spielen. Das führen die Russen jetzt synchronisierter durch als vorher.

Wie machen sie das?

Sie setzen nicht mehr nur stumpf eine Panzerkolonne in Bewegung, die angreift, Verluste macht und wieder angreift, sondern begleiten das nun zum Beispiel mit Kampfhubschraubern, die aus einer großen Entfernung Raketen auf die Ukrainer abfeuern. Dazu wird der Angriff durch gezielte Störungen im elektromagnetischen Feld begleitet. Die Ukrainer haben dadurch Schwierigkeiten, untereinander zu kommunizieren und können ihre Drohnen nicht mehr so gut einsetzen. Zusätzlich wird das Ganze durch Artillerie begleitet, die sehr gezielt wirkt. In den letzten Monaten wurde sehr stark auf Bachmut geblickt, und die Zeit, die den Russen dadurch am Rest der Front zur Verfügung stand, haben sie genutzt.

Wie wirkt sich das auf die Ukrainer aus?

Wenn man die ukrainische Seite anschaut, ist klar, dass es im Luftraum ein großes Manko gibt. Es fehlen potente Luftstreitkräfte und Fliegerabwehr. Die Kampfhubschrauber, die die Russen einsetzen, können aus einer Distanz von acht Kilometern ukrainische Kolonnen angreifen. Da braucht es Fliegerabwehr, die diese heranfahrenden Kolonnen der Ukrainer schützt, um zu vermeiden, dass die Hubschrauber sie schon attackieren, bevor sie überhaupt dort ankommen, wo sie angreifen sollen. Dazu kommen die Stellungen des Gegners: Hätte die Ukraine eigene Kampfflugzeuge, könnten diese die russischen Stellungen vorher bearbeiten, damit ein Angriff auf sie auch zu 100 Prozent wirken könnte. Der D-Day ist ein guter Vergleich: Stellen Sie sich vor, die alliierten Luftwaffen hätten nicht in den Wochen und Monaten vor der Landung der Truppen im Juni 1944 diese Angriffe durchgeführt. Dann wären sie in perfekt ausgebaute Stellungen und bereitgestellte Reserven der Deutschen an der Atlantikküste gelaufen. Das ist das Dilemma der Ukrainer.

Hat die Ukraine ihre Defizite hier erkannt und ist das der Grund, dass sie jetzt eine Pause in der Offensive einlegen wollen, wie das "Institute for the Study of War" schreibt?

Ganz genau. Wir haben jetzt Tag 16 der Offensive. Die Offensive hat in der Nacht zum 4. Juni begonnen. In den ersten zehn Tagen haben die Ukrainer versucht, ihrem Plan folgend vorzurücken und anzugreifen und haben dann erkannt: Aha, die Russen sind darauf vorbereitet. Es gab zwar an einigen Stellen, vor allem im Zentralraum ein Zurückdrängen der Russen aus deren Vorfeldstellungen und somit punktuelle Erfolge der Ukrainer. Aber das ist nicht das, was man erwartet hätte. Die Ukrainer hatten eigentlich einen sehr viel weiteren Vorstoß intendiert. Danach kam, was man im Militär eine sogenannte 'operative Pause' nennt. Das bezeichnet einen Zeitraum, in dem das Militär versucht, die eigenen Fähigkeiten noch einmal neu zu ordnen, und auf das anzupassen, was man bis dato vom Gegner präsentiert bekommen hat.

Erkennen Sie bereits Veränderungen in der ukrainischen Taktik?

Ja, zum Beispiel hat die Ukraine in den letzten Tagen keine Minenräumfahrzeuge mehr eingesetzt, weil die sehr leicht getroffen worden sind. Stattdessen versuchen sie mit Sprengungen, Minengassen zu schlagen, um dann durchzubrechen. Auch haben sie wieder angefangen etwas breiter anzugreifen, um zu schauen, wo es bisher unerkannte Lücken gibt. Die Idee dabei ist, dass man die Russen zwingt, überall gleichzeitig zu sein, bis sie irgendwann überfordert sind. Die gute Nachricht ist, dass die Ukraine trotz des ersten Abwehrerfolges der Russen nicht einfach blind weiter angreift, sondern versucht sich zu reorganisieren.

Noch sind Kräfte verfügbar. Bei dem Ersteinsatz waren circa ein Drittel der Brigaden im Einsatz und zwei Drittel hat man noch, die man jetzt gezielt einsetzen kann. Das heißt, die Karten sind wieder neu gemischt und das Spiel wird wieder eröffnet. Man muss sich aber immer wieder vor Augen führen, dass es täglich um Hunderte, wenn nicht Tausende Menschenleben geht, die bei einer falschen Entscheidung alle zu Tode kommen oder schwer verletzt werden. Das heißt, jede Entscheidung der ukrainischen Führung muss sehr überlegt sein. Ein Manko besteht nach wie vor, und das ist der Mangel an Luftstreitkräften.

In den vergangenen zehn Tagen soll Russland Soldaten vom Ostufer des Dnipro in die Regionen Saporischschja und Bachmut verlegt haben, um dort seine Truppen zu verstärken. Ist das ein Zeichen dafür, dass dort die Hauptangriffsachsen der Ukrainer stattfinden?

Während die Ukraine versucht, sich neu aufzustellen, versucht die russische Seite natürlich, das auch zu tun. Dafür gibt es mehrere Indikatoren. Sie hat zum Beispiel Kampfhubschrauber in den Zentralraum verlegt, was darauf hindeutet, dass sie dort das Schwergewicht der Ukraine erwartet und glaubt, dass sie neue Kräfte nachschiebt. Zum anderen wurde der Raum um Dnipro im Süden mit der Sprengung des Staudamms vorläufig für eine Einsatzführung unbrauchbar gemacht. Die Überschwemmungsgebiete dort sind jetzt natürlich alle verschlammt. Die Kräfte von dort werden jetzt von den Russen dazu verwendet, im Zentralraum eine Rotation durchzuführen. Die Soldaten, die jetzt seit 14 Tagen im Einsatz sind, werden durch frische Kräfte abgelöst. Gleichzeitig versucht man, auch in der Tiefe Kräfte bereitzuhalten, die dann möglicherweise bei einem Durchbruch der Ukraine rasch verfügbar sind, weil man ihn dort erwartet hat.

Nutzen die Russen die Zeit, in der die Ukrainer eine operative Pause einlegen, um ihre Stellungen massiv anzugreifen?

Die Russen versuchen natürlich die Pause entsprechend auszunutzen, indem sie die Bereitstellungsräume, also dort, wo die Ukraine ihre Kräfte jetzt gesammelt hat, angreifen. Das sieht man zum Beispiel beim Einsatz der russischen Luftwaffe, die aerodynamisch verbesserte Freifallbomben, also Gleitbomben einsetzt. Die gleiten von russischer Seite in das gegnerische Territorium und schlagen dort ein. Das sind die Bilder, die wir sehen, wenn in Ortschaften in Frontnähe punktuelle Explosionen stattfinden.

Auf Telegram und Twitter kursieren Videos, die einen ferngesteuerten ukrainischen T-54- Panzer zeigen. Offenbar wurde er zuvor von russischen Streitkräften gekapert, mit Sprengstoff gefüllt und anschließend per Autopilot zurück zu ukrainischen Stellungen geschickt. Setzen die Russen hier neue Taktiken ein, die wir bisher noch nicht gesehen haben?

Das kennen wir noch aus der Zeit des Islamischen Staats. Die Islamisten haben zum Teil Panzer mit einer Sprengstoffmenge von bis zu 1000 Kilogramm vollgeladen und sie dann zu feindlichen Stellungen geschickt. Die Gegner haben versucht, sich zu wehren, haben den Panzer aber nicht bekämpfen können. Beim Eintreffen an dem kurdischen Stützpunkt hat der IS die Panzer in die Luft gesprengt und der Sprengstoff hat dort im Prinzip alles zerstört. In Fall der Russen, wenn das Video so stimmt, haben diese einen gekaperten Panzer mit Sprengstoff vollgeladen und versucht, ihn in die Richtung der ukrainischen Stellungen zu schicken. Damit wollen sie eine Bresche in die Verteidigung der Ukraine schlagen. Das erinnert auch an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Da gab es auf deutscher Seite den sogenannten Goliath und Borgward. Das waren zwei ähnlich konstruierte Spezialpanzer, die auch dazu gedacht waren, eine Bresche beim Gegner zu schlagen und dann durch diese Bresche vorzustoßen. Genau das versuchen die Russen offensichtlich auch.

Man kann also an so einem gekaperten Panzer einfach etwas anbringen, womit man ihn aus der Ferne steuern kann?

So scheint es. Wenn sie in der Lage sind, eine Drohne zu steuern und zu fliegen, dann können sie auch ein gepanzertes Fahrzeug so ausstatten, dass das möglich ist. Dadurch kann man eigene Kräfte schonen. Es gibt aber auch noch andere neue Gefechtstaktiken, die die Russen anwenden.

Welche sind das?

Das geht öfter unter, weil wir es nicht sehen. Interessant ist aber der Einsatz von Störungen im elektromagnetischen Feld. Das heißt, die Russen haben in den letzten Monaten entlang der gesamten Front Störmittel eingesetzt, um gezielt die Kommunikation der Ukrainer zu stören. Und zum anderen können sie den Drohneneinsatz verringern. Die Ukraine hat ja in den letzten Monaten sehr innovativ gezeigt, dass sie gerade durch den Einsatz von Drohnen sehr viele Erfolge hat. Das war deshalb eine böse Überraschung für die Ukraine, dass die Russen das elektromagnetische Feld wieder für sich besetzen.

Welche neuen Taktiken sehen Sie außerdem?

Der zweite Faktor sind immer wieder neue Waffensysteme, die wir in der Vergangenheit punktuell gesehen haben, wenn die Russen in der Offensive waren. Zum Beispiel setzen sie massiv Minenwerfer ein. Wenn die Ukraine eine Minengasse geräumt hat und dann durchfahren möchte, können die Russen genau in dieser Zeit mit Einsatz der Minenwerfer die Bresche wieder verminen. Dann war die ganze Arbeit umsonst und die Ukrainer müssen alles nochmal machen. Das sind Kleinigkeiten, die zeigen, dass die Russen sehr wohl in der Lage sind, sich anzupassen. Aus meiner Sicht schadet es den Ukrainern mehr, als es ihnen hilft, wenn wir die ganze Zeit die Russen für unfähig erklären. Wir müssen verstehen, wie die Russen kämpfen. Wir müssen ihnen zugestehen, dass sie in der Lage sind, sich anzupassen. Denn nur dann wissen wir, was die Ukraine braucht und wie schwierig es auch für die Ukraine ist.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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