Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Ukrainer haben den Köder der Russen geschluckt"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ukrainische Soldaten in der Nähe von Saporischschja suchen mit einem US-Stinger zur Luftverteidigung ein russisches Ziel.

Ukrainische Soldaten in der Nähe von Saporischschja suchen mit einem US-Stinger zur Luftverteidigung ein russisches Ziel.

(Foto: IMAGO/SOPA Images)

Die einzelnen Vorstöße der Russen sind gering, aber die Summe macht es, sagt Markus Reisner ntv.de. Der Blick zurück auf die vergangenen drei Wochen zeigt einen deutlichen Erfolg der Russen im Donbass. Der Militärexperte erklärt, was der Ukraine fehlt, um sich zu wehren.

ntv.de: Herr Reisner, in den vergangenen Tagen kamen von der Front einige Berichte über russische Vorstöße. Was sehen Sie dort?

Markus Reisner: Entlang der gesamten Front im Donbass greifen die Russen an und wir sehen nun zunehmend mehr Einbrüche in die ukrainischen Stellungen. Südlich von Kupiansk sind sie bei Pishchane zwei Kilometer vorgerückt, nördlich von Terny ebenso. Ostwärts bei Siversk konnten die Russen sich mehrere Kilometer in Richtung Ivano-Darivka vorarbeiten. Bei Tschassiw Jar sind sie bis zum Donbass-Kanal vorgestoßen, bei Awdijiwka wurde ein weiteres Dorf erobert und die Russen rücken nach Süden und Westen vor. Das Dorf Juriwka wurde eingenommen und in Richtung Wuhledar gibt es Berichte über weitere russische Vorstöße entlang der Felder in Richtung Westen. Krinky hingegen mussten die Ukrainer letztlich aufgeben.

Das sind viele taktische Erfolge auf dem Schlachtfeld. Haben sie auch operative Bedeutung? Also weisen diese Meldungen über das konkrete Kampfgeschehen hinaus?

Für die ukrainischen Truppen ist die Front überdehnt. Sie mussten wichtige Reserven Richtung Charkiw verschieben, als die Russen dort angegriffen hatten. Diese Truppen fehlen im Donbass und ermöglichen es den Russen, dort erfolgreich zu sein. Mit dem Angriff auf Charkiw haben die Russen also faktisch einen Köder gelegt, den die Ukrainer geschluckt haben. Den russischen Truppen gelingt noch kein echter Durchbruch, aber ihr Vormarsch ist erfolgreich. Das sieht man mit Blick auf die vergangenen drei Wochen deutlich.

Was entwickelt sich auf strategischer Ebene, also mit weitreichenderen Effekten als nur ein kleiner Vorstoß am Boden?

Auch hier ist der Druck nach wie vor groß. Die Kreml-Truppen attackieren weiterhin die Infrastruktur in der Ukraine. Aber die ukrainische Armee versucht gegenzuhalten. Sie wirkt mit laufenden Drohnenangriffen, aber auch mit HIMARS-Raketen in die Tiefe Russlands hinein. Die Russen behaupten, sie hätten in der vergangenen Nacht über 80 Drohnen abgeschossen. Wir haben zusätzlich schwergewichtigsmäßige Angriffe weitreichender Waffensysteme, vor allem im Raum Charkiw. Wir sehen auch Einsätze auf der Krim, etwa gegen ein weiteres S400-System, also ein weitreichendes Fliegerabwehrsystem, die zerstört worden sein soll.

Aus der gestrigen Nacht wurden Angriffe auf russische Raffinerien gemeldet.

Hier gibt es Bilder, die zeigen, dass Drohnen auf einem Raffinerie-Gelände in Tuapse einschlagen und diese Angriffe zielen darauf ab, Russland ein wesentliches Einkommenspotenzial zu nehmen. Indien kauft in großem Stil russisches Öl und verkauft das dann weiter. Experten sind sich nicht einig, manche sagen, durch die ukrainischen Drohnenattacken sind fünf Prozent der Produktion weggebrochen andere schätzen 15 Prozent. Entsprechend wird weniger Geld in die russische Kriegswirtschaft gespült. So das ukrainische Kalkül.

Aber das wirkt sich erst sehr langfristig aus, oder?

Wir sehen die Angriffe seit mehreren Monaten, sehen Zerstörung und Folgen davon. Aber wir können noch keinen messbaren Effekt feststellen. Diese Angriffe werden sich erst über die kommenden Monate und Jahre auswirken, wenn die Ukraine sie schleichend weiterführen kann. Hier mal ein Treffer in einem Hafen, dort mal eine brennende Raffinerie. Bloß: Auf diesem Niveau können sich die Russen immer wieder neu aufstellen. Das sehen wir auch beim Einsatz westlicher Waffensysteme. Da werden qualitativ sehr hochwertige Waffensysteme in einem begrenzten Umfang geliefert und eingesetzt. Das führt auch zu Schäden auf russischer Seite, aber eben nicht so umfassend, dass es zu entscheidenden Zerstörungen kommt. Russland schafft es auf dem Niveau immer noch, sich anzupassen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Für Ungarn könnte das schwieriger sein.

Ungarn hat sich gerade darüber beschwert, dass die Ukraine eine der wichtigsten Nebenleitungen der Druschba-Pipeline faktisch schließen will. Das würde für Ungarn bedeuten, dass es keine Ölversorgung und auch kein Gas mehr bekommt, ebenso die Slowakei. Da wäre der Effekt direkt feststellbar.

Sie nannten eben die russischen Vorstöße im Donbass. Beim Zuhören scheint es so, als werde die Erfolgsliste immer länger. Scheint das nur so?

Aus meiner Sicht sieht man hier das Problem der Ukrainer, dass ihnen die Reserven ausgehen, um überall, wo es notwendig ist, wie eine Feuerwehr den Brand zu löschen, der von den Russen ausgelöst wird. Der Grund liegt unter anderem darin, dass zu viele Kräfte im Norden gebunden sind und man nicht schnell genug neue Kräfte aufstellen kann. Die Grundausbildung eines Soldaten - nehmen wir mal einen Infanteristen - dauert derzeit fünf Wochen. Danach kommt er an die Front, ist im Einsatz und erhält währenddessen noch weiterführende Ausbildung. Insgesamt ist das jedoch enorm kurz und zeigt, wie prekär die Lage ist. Bilder, die uns von der Front erreichen, zeigen Einsätze ukrainischer Drohnen. Aber wenn wir uns das Territorium anschauen, sehen wir, dass die Kämpfe auf zuvor ukrainisch gehaltenem Gebiet stattfinden, auf das die Russen nun vorgerückt sind.

Eine Information, die der ukrainische Generalstab eigentlich vermutlich gar nicht geben möchte, oder?

Richtig. Beim Beispiel Niu York haben die Ukrainer mehrere Tage nicht zugegeben, dass die Russen erfolgreich eingebrochen waren. Dann hat man die Bilder von der Bekämpfung der Russen gesehen, wie weit sie schon im Ort drin waren. Somit war klar: Der Vorstoß ist gelungen.

Nun sind die Russen teilweise in die zweite Verteidigungslinie eingebrochen. Wie weit ist die dritte entfernt? Wieviel Zeit wird es die Russen kosten, sie zu erreichen?

Das lässt sich schwer sagen, die Abschnitte sind unterschiedlich gut ausgebaut. Der große Unterschied zur ersten Verteidigungslinie: Diese wurde über fast acht Jahre ausgebaut. Die zweite und dritte Linie sind nur stiefmütterlich ausgebaut worden. Hier versucht die Ukraine nachzurüsten. Das ukrainische Narrativ ist, dass sie Gelände gegen Kraft eintauscht. Das heißt, die Russen brauchen ungleich mehr an Kräften, um einen gewissen Geländeabschnitt in Besitz zu nehmen. Die Ukraine ringt ihnen diese Verluste ab und gibt dafür ein Stück Gelände preis.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen