Politik

Markus Kaim im Interview "Die Zivilbevölkerung bleibt eine Geisel der Hamas"

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Israel vermeldet, den Gazastreifen in eine Nord- und eine Südzone geteilt zu haben. Der Norden wird nun das Kampfgebiet sein, sagt Sicherheitsexperte Markus Kaim im Gespräch mit ntv. Doch die Frage, wie lange es dauert, bis Israel das selbstgesteckte Ziel, die Zerstörung der Hamas, erreicht hat, ist offen - wenn es überhaupt zu erreichen ist.

ntv: Gaza-Stadt ist nach israelischen Angaben komplett eingekreist, der Gazastreifen in Nord und Süd geteilt. Was bedeutet das jetzt genau?

Markus Kaim: Das trägt den unterschiedlichen Anforderungen Israels Rechnung. Einerseits gibt es das Ziel, die Hamas auszuschalten. Das hat der israelische Ministerpräsident in den letzten Tagen immer wieder betont. Es geht darum, eine Situation herzustellen, dass Hamas im Gazastreifen nie wieder Israel angreifen kann. Und andererseits, das ist in den letzten Wochen deutlich geworden, ist der Druck auf Israel gestiegen, der humanitären Situation stärker Rechnung zu tragen. Das tragen viele internationale Akteure an Israel heran, auch die Bundesregierung, auch die USA. Diesen unterschiedlichen oder gegensätzlichen Anforderungen Rechnung zu tragen, dem dient dieses Ziel, den Gazastreifen zu trennen, in den Norden, was letztlich das Kampfgebiet sein wird, und in den Süden, was letztlich das Schutzgebiet sein wird. So könnte man es beschreiben. Und damit zeichnet sich eine Verschärfung der Kämpfe im Norden ab.

Was bedeutet das für die Menschen in Gaza? Können die überhaupt noch in Richtung Süden, wenn Gaza-Stadt jetzt von der israelischen Armee umzingelt ist?

Ich glaube, diese Sorge ist völlig berechtigt. Es war so ein knappes Zeitfenster von drei bis vier Stunden, das die Israelis eingeräumt haben. Es gab Berichte, dass die Hamas die Zivilbevölkerung daran gehindert haben soll, in den Süden zu fliehen. Angesichts der Informationssperre ist es aber schwierig, die Situation zu beurteilen. Dennoch glaube ich, dass die Grundtendenz Ihrer Frage genau den Kern trifft. Die Zivilbevölkerung bleibt auch nach dieser Trennung in Kampfgebiet und Schutzgebiet letztlich eine Geisel der Hamas.

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Das Ziel Israels ist es, die Hamas zu zerstören. Dass man jetzt Nord- und Süd-Gaza hat, hilft das dabei?

Ich würde es anders formulieren. Letztlich ist dieses Ziel ja sehr diffus. Das ist eine politische Vorgabe, eine politische Maßgabe, die Hamas zu zerstören. Man müsste ja konkret fragen: Was soll das denn heißen? Die politische Führung sitzt ohnehin im Ausland, derer wird man nicht habhaft werden. Und angesichts der Mutmaßungen, die ich jetzt hier noch mal wiedergebe, dass 900 Kilometer Tunnel unter dem Gazastreifen sind, ist die Frage: Wie viel kann die israelische Armee davon wirklich zerstören? Und wann ist der Punkt erreicht, an dem man sagen kann: Jetzt ist die Hamas, nennen wir es mal handlungsunfähig? Das ist vielleicht der bessere Punkt. Es geht nicht ums Zerstören, sondern man will die Hamas handlungsunfähig machen.

Und wann ist das erreicht?

Das liegt letztlich im Auge des Betrachters, wann das erreicht ist. Es gibt kein objektives Kriterium. Dementsprechend lässt sich auch die Frage nicht beantworten, wie lange der Krieg noch dauert. Letztlich dauert der Krieg so lange, wie der israelische Ministerpräsident den Befehl dazu gibt. Und da wird viel vom Kriegsgeschehen abhängen in den nächsten Wochen, von den israelischen Verlusten, vom öffentlichen Druck auf Israel, Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen und letztlich eine ganz unbekannte Größe: die politische Landschaft in Israel selber.

Wie meinen Sie das?

Aus nachvollziehbaren Gründen haben sich jetzt in den letzten vier Wochen alle hinter einem Ministerpräsidenten versammelt. Hinter Benjamin Netanjahu. Aber das muss ja nicht so bleiben. Wenn die Verluste steigen sollten auf israelischer Seite, könnten die üblichen Bruchlinien des israelischen Parteiensystems wieder aufreißen und die Allparteienregierung zerfallen. Das ist spekulativ aus heutiger Sicht, aber das sollte man zumindest mal erwähnen.

Würden Sie sagen, das ist jetzt eher ein Risiko, was die Armee entschieden hat, oder ist das eine Chance?

Also letztlich ist die ganze Operation risikoreich, weil sie sich in weiten Teilen unter der Erde abspielen wird. Das ist eine gewaltige Zahl, eine geschätzte Zahl zugegebenermaßen, 900 Kilometer Tunnel. Bei einem Gebiet von 40 Kilometer Länge, müssten das übereinander gelagerte Tunnel sein. Die Rede ist von bis zu 80 Meter Tiefe. Von Tunneln, die mit Beton ausgebaut worden sind, die als Munitionslager, als Treibstofflager dienen. Die muss man ja erst mal betreten, sich Zugang verschaffen. Und damit wird man ein leichtes Ziel der palästinensischen Hamas. Und das ist eine schwierige Operation für Israel.

Warum wird nicht mehr Druck auf Ägypten ausgeübt, die Grenze zu Gaza zu öffnen und dann zum Beispiel Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufzunehmen?

Das betrifft nicht nur Ägypten. Die Frage ist, ob man Gaza-Flüchtlinge einfach nach Ägypten hineinlassen könnte. Dann befürchtet Ägypten aber, mit den Palästinensern alleingelassen zu werden. Es gibt ohnehin eine große Inflation in Ägypten, eine schwierige Wirtschaftslage. Das wäre eine erhebliche Belastung. Andererseits werden Akteure wie Ägypten gebraucht. Für eine politische Lösung will ich gar nicht sagen. Es geht jetzt erstmal darum, den Konflikt ein bisschen einzuhegen, einzudämmen. Und dementsprechend erklärt das, weshalb die internationale Gemeinschaft nicht zu sehr Druck auf Ägypten ausübt, sondern eher ein Ansatz fruchtbar ist, wie es der amerikanische Außenminister macht, der am Wochenende zwischen den einzelnen Hauptstädten des Nahen Ostens pendelte und mit den zentralen Akteuren sprach.

Die Rolle der USA hat sich etwas verändert in den letzten vier Wochen. Am Anfang hieß es: Wir stehen ohne Wenn und Aber an der Seite von Israel. Und jetzt ist die Rede von einer humanitären Feuerpause. Wie sehen Sie das? Sehen Sie da auch diese Veränderung in der Rolle der USA?

Absolut, das ist unverkennbar. Die Administration betont mittlerweile beides. Einerseits den Schutz Israels. Das ist nicht weggegangen. Aber gleichzeitig auch die humanitären Aspekte, den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das ist hinzugetreten. Und dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen natürlich die Bilder aus dem Gazastreifen, die herzzerreißend sind. Da kann man nicht kalt bleiben, wenn Mütter um ihre Kinder weinen oder Väter um ihre Kinder weinen. Dann ist das genauso herzzerreißend wie die Situation in Israel. Wir sehen die bedrückende humanitäre Situation im Gazastreifen. Und zum Zweiten, das kommt hinzu, gibt es eine erkennbare Opposition in den USA selber, innerhalb der Demokratischen Partei. Wir haben interessante Bilder in den letzten Tagen gesehen, von Demonstrationen in Washington und New York, von Demokraten, zum Teil von jungen amerikanischen Juden, die sich gegen den Krieg aussprechen. An solche Bilder kann ich mich gar nicht erinnern. Das sind eigentlich traditionelle Wähler der Demokratischen Partei. Das unterminiert natürlich den Wahlkampf von Joe Biden, der 2024 wiedergewählt werden will. Also innenpolitischer Druck in den USA, und die Situation in Israel selber oder im Gazastreifen - das zusammengezogen erklärt diese Entwicklung der USA in den letzten vier Wochen.

Was würden Sie sagen, stehen wir vor einer humanitären Feuerpause oder einer generellen Feuerpause?

Der israelische Ministerpräsident Netanjahu hat sich ja nicht darauf eingelassen. Also auf eine Feuerpause.

Verstehen Sie das?

Netanjahus Argument ist: Das wichtigste Kriegsziel ist nicht erreicht. Die Infrastruktur der Hamas muss zerschlagen werden, sie muss handlungsunfähig gemacht werden. Davon ist Israel weit entfernt. Vor diesem Hintergrund ist aus seiner Sicht nachvollziehbar, keiner Feuerpause zuzustimmen. Daher ist jetzt immer von humanitären Pausen die Rede. Zwar werden die USA möglicherweise weiter Druck ausüben und je nach Kriegsverlauf wird dieser Druck auf Israel weiter steigen. Aber dass die Israelis jetzt wirklich einer Feuerpause zustimmen, die länger ist, die der Hamas die Gelegenheit geben würde, sich neu zu gruppieren, neue Ressourcen hinzuzufügen, das kann ich mir nicht vorstellen.

Was wäre Ihre Prognose, wie geht es weiter?

Ich gehe davon aus, dass wir eine weitere Fortführung, um nicht zu sagen sogar Zuspitzung der Kriegshandlungen sehen werden.

Sehen Sie denn momentan perspektivisch gesehen eine Lösung? Ich habe das Gefühl, von der Zweistaatenlösung ist man wirklich meilenweit entfernt. Wie sehen Sie das?

Dem kann ich nur zustimmen. Das ist formal die Position der internationalen Gemeinschaft, die Zweistaatenlösung. Aber davon sind wir weit entfernt. Der 7. Oktober hat die Radikalen auf beiden Seiten, die Extremisten auf beiden Seiten, gestärkt. Diejenigen, die keinen Kompromiss wollen, die keine Verständigung wollen. Und die, die das wollen, die Moderaten auf beiden Seiten, und die gibt es ja, die gibt es in Israel, gibt es auch unter den Palästinensern, die finden im Moment kein Gehör. Dementsprechend gibt es da wenig Chancen.

Wie geht es dann politisch weiter?

Erstmal eine Politik der kleinen Schritte. Also die unpolitischen Fragen regeln. Nicht die Zweistaatenlösung angehen. Sondern Fragen der humanitären Versorgung klären. Und die zweite Frage, die, glaube ich, geklärt werden muss, ist die politische Vertretung der Palästinenser im Gazastreifen wie im Westjordanland. Wir wissen ja gar nicht, wen die Palästinenser wirklich wollen. Es gibt Meinungsumfragen aus jüngster Zeit, die darauf hindeuten, dass gerade auch im Gazastreifen die Mehrheit der Palästinenser eine Zweistaatenlösung bevorzugen würde, also ein Kompromiss mit Israel. Das ist aber völlig in den Hintergrund getreten, weil die Hamas dominiert hat. Wichtig wäre es, den Palästinensern unabhängig von der Hamas und unabhängig von der alten Regierung im Westjordanland überhaupt erst mal wieder eine Stimme zu verschaffen. Und das, glaube ich, muss ein ganz wichtiges Anliegen der internationalen Gemeinschaft sein.

Mit Markus Kaim sprach Tamara Bilic

Quelle: ntv.de

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