Der Neujahrs-Zauber der Kanzlerin Diesmal bitte Schwarz-Rot-Gold, Frau Merkel!
30.12.2014, 14:21 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Den Reichstag im Rücken, zur Rechten die Deutschlandfahne: Es ist Jahreswechsel und die Kanzlerin spricht wieder zu ihrem Volk. Etwas Spannendes wird sie nicht sagen. Trotzdem werden ihr Millionen zuschauen. Wieso eigentlich?
Wenn man sich von der Kanzlerin nur etwas wünschen könnte, zum Beispiel diese eine Antwort: Frau Merkel, haben Sie Ihren guten Vorsatz erfüllt? Vor genau zwölf Monaten hatte sie in ihrer Neujahrsansprache verraten, was sie sich für 2014 vornimmt. "Mehr an die frische Luft zu kommen", sagte sie. Es war ein vermeintlich tiefer Einblick, den die Frau in ihrem goldenen Blazer da gewährte, und gleichzeitig ein gut gemeinter Ratschlag an alle Zuhörer.
Merkel hat neun Neujahrsansprachen hinter sich, jetzt hält sie ihre zehnte. Die einzig spannende Frage dabei ist, welche Farbe sie diesmal tragen wird. Gold, rot, schwarz, silber und blau - das hat sie alles schon durch. Vielleicht mit grün oder lila ins neue Jahr rutschen oder passend zum WM-Titel in Schwarz-Rot-Gold? Das wäre immerhin eine Neuheit, ein kleines bisschen Aha-Effekt in diesem sonst so spannungsleeren und verzichtbaren Ritual.
So wird es ablaufen: Durch eine kleine persönliche Anekdote wird die Kanzlerin ein wenig Intimität suggerieren. Vielleicht wird sie über ihren Skiunfall sprechen oder erzählen, dass sie lieber "Mensch ärgere dich nicht" spielt als Schach. Über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wird sie wieder sagen, dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Über die spannenden Momente des Jahres, etwa über die Telefonate mit Wladimir Putin, wird sie leider nicht reden. Publikum ist Merkel aber auch diesmal sicher. Millionen Deutsche werden ihr wieder dabei zusehen, wie sie den Kopf zwischen den Kameras hin und her bewegt, wie sie zur Betonung die Augen aufreißt, während sie ihren Text quälend langsam vom Teleprompter abliest. Künstlicher geht es nicht.
"Lassen Sie mich ganz offen sein"
Neues, Absurdes oder gar Unvorhersehbares darf der Zuschauer nicht erwarten. Das gab es ohnehin nur einmal. Am 31. Dezember 1986 strahlte die ARD die Rede aus, die Helmut Kohl im Vorjahr gehalten hatte. Der damalige Programmdirektor erklärte später, es habe sich um ein Versehen gehandelt. Der WDR habe die alte Fassung vom NDR angefordert, um ein Zitat daraus zu verwenden. Nach dem Überspielen sei das Videoband in der Sendezentrale der Tagesschau liegen geblieben, am Silvesterabend dann versehentlich die falsche Kassette eingelegt worden.
Heute ist die Technik ausgereifter, Fehler sind so gut wie ausgeschlossen. Die große Deutschlandfahne neben Merkel sowie die Silhouette des erleuchteten Reichtags im Hintergrund erzeugen staatstragendende Feierlichkeit. Viel mehr gibt es nicht. Ein Rückblick auf Merkels Auftritte zeigt: Sie legt gern mütterlich die Hand auf. Mal gibt sie sich vorsichtig optimistisch, mal erhebt sie den warnenden Zeigefinger. "Lassen Sie mich ganz offen sein", so begann sie 2010, "als ich vor einem Jahr genau hier saß und zu Ihnen sprach, habe ich bei aller Zuversicht auch mit gemischten Gefühlen in die Zukunft geschaut".
Trotz aller Sorgen sei es am Ende ein gutes Jahr gewesen. "Das ist vor allem Ihr Verdienst. Deutschland ist so erfolgreich, weil Sie alle Tag für Tag Ihre Arbeit machen", lobte sie. Die Rolle der Mutmacherin mag die Kanzlerin, auch ein bisschen menscheln lässt sie es gern. 2009 blickte sie auf die Wiedervereinigung zurück: Ohne den Mauerfall hätten sie und ihr Mann den Silvesterabend 1989 niemals gemeinsam in Hamburg mit den westdeutschen Verwandten verbringen können. "Ohne den Mauerfall wäre mein Leben völlig anders verlaufen." Es sind unverbindliche Worte, bis ins letzte Detail durchkalkuliert.
Von Verschleiß keine Spur
Ein gutes Gefühl geben, Optimismus verbreiten - das ist der Sinn der Ansprache und Merkel hat durchaus Grund dazu. Dem Land geht es bestens. Seit Merkels Amtsantritt sank die Arbeitslosenquote von 11,7 auf 6,7 Prozent. Trotz der wirtschaftlichen Krise erzielt die Republik ein ordentliches Wirtschaftswachstum. In Merkels Anwesenheit wurde die Nationalmannschaft im Sommer Fußball-Weltmeister. Und das Beste ist: Auch im neunten Jahr ihrer Kanzlerschaft führt sie die Beliebheitslisten an. Von Verschleiß ist keine Spur.
So politikverdrossen viele Menschen auch sind, so sehr sie den Weg an die Wahlurnen zunehmend meiden: Die Deutschen lieben ihre Kanzlerin. So wie sie ist. Ohne Schnörkel, ohne Schnickschnack, zu 100 Prozent berechenbar, das ist ihr bescheidener Zauber. Dünger auf die Kreativitätsmühlen ist das nicht gerade. Merkel hat keinerlei Grund, an ihren Reden etwas zu ändern, die Bürger wollen Verlässlichkeit. Bloß keine Experimente!
Und falls doch etwas schieflaufen sollte? Und wenn schon! Wenn versehentlich eine alte Merkel-Rede ausgestrahlt wird, würde das wahrscheinlich kaum jemand merken. Die Sätze sind großteils austauschbar und universell gültig. Auf allzu viel Variation hat die Kanzlerin nie gesetzt. Das gilt auch für die Farben ihrer Jacketts. 2013 und 2011 trug sie Gold. Wenn der Blazer rot ist, könnte die Rede auch von 2005 oder 2009 sein. Wir werden es sehen.
Quelle: ntv.de