Zum Tode von Kurt Biedenkopf Erst Vordenker, dann König
13.08.2021, 10:37 Uhr
Kurt Biedenkopf, 1930-2021
(Foto: dpa)
Kurt Biedenkopf war ein Politiker, der Auseinandersetzungen um Sachthemen nicht scheute. Er ging spät in die Politik und erlebte zwei Karrieren - die erste im Westen, die zweite im Osten.
Auf seine Sachsen ließ Kurt Biedenkopf nichts kommen. Die Menschen müssten immer das Gefühl haben, dass sie ernst genommen werden, das war sein Credo. Er selbst gehe, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auch mal zum Müllmann, um sich bei ihm für seine wichtige Arbeit zu bedanken, sagte er vor zwei Jahren am Rande eines Interviews.
Diese Volksnähe war es, die Biedenkopf, der Sachsen von 1990 bis 2002 als Ministerpräsident regierte und drei Mal als Spitzenkandidat die absolute Mehrheit für die CDU holte, zu "König Kurt" werden ließ. Er selbst winkte stets ab, wenn er diese Bezeichnung hörte. Geschmeichelt hat sie ihm dennoch.
Biedenkopf war nicht immer ganz oben. Die politische Karriere des begnadeten Analytikers weist auch Brüche auf. Seine politische Biografie ist, vergleicht man sie mit denen der meisten Spitzenpolitiker, ungewöhnlich. Erst 1966, mit 36 Jahren, trat er in die CDU ein.
Als Biedenkopf 1973 unter dem neuen Parteivorsitzenden Helmut Kohl CDU-Generalsekretär wird, hat er bereits Jahre in Wirtschaft und Wissenschaft gearbeitet - so war er mit 37 Jahren der jüngste Hochschulrektor in Deutschland und wenig später Geschäftsführer bei Henkel. Weil er schon etwas geworden ist, umgibt ihn eine Aura der Unabhängigkeit. Biedenkopf, der einmal zugab, bei der Bundestagswahl 1961 seine Stimme Willy Brandt und damit der SPD gegeben zu haben, weil er die Ära von CDU-Kanzler Konrad Adenauer beendet sehen wollte, musste nicht unbedingt Politiker werden, um erfolgreich zu sein.
Biedenkopf ist kein Parteisoldat. Mit ihm als CDU-Generalsekretär kommt ein neuer Stil in die Bonner Parteizentrale. Er bringt eine gewisse Intellektualität auch in die innerparteiliche Debatte und versachlicht die Auseinandersetzung mit dem Hauptkonkurrenten SPD. Er erwirbt sich damit auch Ansehen beim sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Biedenkopf ist kein klassischer Parteimanager, der ausschließlich auf den politischen Gegner eindrischt. Bereits in den 1970er-Jahren wirft er Themen wie die Sicherung der Renten auf und nervt damit die eigenen Parteikollegen. Auch den CDU-Vorsitzenden Kohl, der den Querdenker später als Kanzler nicht in seinem Kabinett haben will. 1977 ist für Biedenkopf dann Schluss mit dem Generalsekretärs-Dasein.
Unfreiwilliger Spitzenkandidat in NRW
Es folgen politisch erfolglose Jahre in Nordrhein-Westfalen. Gegen die damals dort übermächtigen Sozialdemokraten unter Ministerpräsident Johannes Rau hat Biedenkopf keine Chance. Bei der Landtagswahl 1980 unterliegt er als unfreiwilliger CDU-Spitzenkandidat - Heinrich Köppler verstarb drei Wochen vor dem Votum - dem populären Wuppertaler. Biedenkopf befindet sich in Düsseldorf auf dem politischen Abstellgleis und Kohl tut nichts, um ihn davon wegzuholen. 1987 wird Biedenkopf auch noch den Vorsitz der NRW-CDU los. Er zieht sich endgültig aus der nordrhein-westfälischen Landespolitik zurück, seine politische Karriere ist eigentlich beendet.
Doch dann kommt der politische Umbruch im Ostblock - und damit auch in der DDR. Biedenkopf erhält seine zweite politische Chance im deutschen Osten. Bereits vor der Deutschen Einheit ist er im Osten präsent. An der Leipziger Karl-Marx-Universität - die damals noch so heißt - lehrt der Professor im Frühjahr 1990 Wirtschaftspolitik und ist damit einer der ersten Westdeutschen, die an einer DDR-Universität arbeiten. So wundert es nicht, dass Biedenkopf im neugebildeten Freistaat Sachsen als Ministerpräsident gehandelt wird.
In Gesprächen legte Biedenkopf immer Wert auf die Feststellung, dass er gebeten wurde, das Amt des ersten Mannes in Sachsen zu übernehmen. Er musste - gemeinsam mit seiner Frau Ingrid - aber nicht lange überlegen, wie er 2019 ntv.de sagte. Den Ostdeutschen im Allgemeinen und den Sachsen im Besonderen müsse in dieser schwierigen Zeit des Umbruchs geholfen werden, ist sich das Ehepaar einig. "Das müssen wir eigentlich machen", beschrieb er seine Reaktion von damals. "Und zwar deshalb, weil wir die Menschen in der DDR nicht im Stich lassen dürfen."
Der Westimport wird stolzer Sachse
Biedenkopf ist 1990 der einzige Westimport für das Amt des Ministerpräsidenten in einem ostdeutschen Bundesland. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen versuchen es mit Politikern aus der untergegangenen DDR. Von diesen kann sich nur der Brandenburger Manfred Stolpe über eine längere Zeit politisch im Amt halten.
Für die Mehrheit der Sachsen ist Biedenkopf ein Glücksfall. Die Menschen zwischen Neiße und Vogtland spüren, dass er sich wirklich für sie interessiert. Biedenkopf reist durch das Land und macht den Menschen von provisorisch zusammengezimmerten Holztribünen aus Mut. Er redet dabei dem Volk nicht nach dem Mund. Biedenkopf verkündet seinen Sachsen unangenehme Wahrheiten, wie die Notwendigkeit eines massiven Stellenabbaus in der Braunkohlewirtschaft oder der Schließung unrentabler Betriebe. Bereits vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten mahnt er Pragmatismus an. Es könnte sein, dass die Leute, die ihm jetzt zujubelten, ihn ein Jahr später auspfiffen, sagt er kurz nach seinem Amtsantritt.
Die Sachsen bleiben ihrem Landesvater trotz allem größtenteils treu, denn in ihrem Land tut sich etwas. Die beiden größten Städte Dresden und Leipzig profitieren von Biedenkopfs Politik der "ökonomischen Leuchttürme". Dort entstehen Arbeitsplätze in der Mikroelektronik und in der Automobilbranche. In ländlichen Regionen oder in anderen Städten wie Chemnitz ist das Tempo des Aufschwungs allerdings deutlich geringer.
Biedenkopf baut im Freistaat sein eigenes Machtzentrum. In der CDU wird er über den Bundesrat wieder zu einem wichtigen politischen Faktor - sehr zum Ärger von Kanzler Kohl. Biedenkopf profiliert sich zu einem glühenden Verfechter der Interessen Sachsens und des deutschen Ostens insgesamt. Er schreibt den Westdeutschen ins Stammbuch, die Umstellung der Lebensverhältnisse der Menschen aus der ehemaligen DDR nicht genügend zu würdigen. Auch den Begriff "neues Bundesland" lehnt er für Sachsen ab. Der Freistaat habe eine 1000 Jahre lange Geschichte und eine längere Tradition als die sogenannten "Bindestrichländer" - ein Seitenhieb auf Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg.
"Einer der klügsten Köpfe der deutschen Politik"
Aber Biedenkopf polarisiert auch. So bemängeln seine Kritiker seinen Hang zur Besserwisserei, der ihrer Meinung nach zunehmend einen selbstherrlichen Regierungsstil nach sich zieht. "König Kurt" ist mitunter auch gegenüber Parteifreunden unnachgiebig. So will er lange Zeit verhindern, dass Finanzminister Georg Milbradt sein Nachfolger in der Dresdner Staatskanzlei wird. Auch seinem aus Sachsen stammenden Nach-Nachfolger Stanislaw Tillich sollte er später die Eignung zum Ministerpräsidenten absprechen. Erst mit Michael Kretschmer ist er zufrieden. "Das ist ein ungewöhnlich mutiger Mann, hervorragend orientiert, Tag und Nacht unterwegs und in seinem Einsatz eindrucksvoll", sagt er über ihn.
Außerhalb der CDU wird Biedenkopf eine Verharmlosung des in Sachsen aufkommenden Rechtsextremismus vorgeworfen. Sein damals getätigter Spruch, die Sachsen seien dagegen "immun", erweist sich als falsch. Bei der Landtagswahl 2004 - zwei Jahre nach Biedenkopfs Abtritt als Regierungschef - schafft die NPD mit 9,2 Prozent den Sprung in den Dresdner Landtag. Die heute im Landtag vertretene AfD, die bei der Wahl 2019 mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt, ist für Biedenkopf lediglich eine "populistische Partei".
In der CDU genießt Biedenkopf bis heute einen glänzenden Ruf. Der CDU-Vorsitzenden Armin Laschet würdigt ihn heute als Ausnahmepolitiker, als "Staatsmann und Landesvater im besten Sinne". Biedenkopf sei "einer der klügsten Köpfe der deutschen Politik" gewesen, sagt Laschet. "Er hat sich um unser Land verdient gemacht." Kurt Biedenkopf ist am gestrigen Donnerstag im Alter von 91 Jahren gestorben.
Quelle: ntv.de