Interview mit Minister Kuleba "Es gibt Zeiten, in denen muss man eine Wahl treffen"
24.03.2022, 19:42 Uhr
Der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, schätzt die Sympathiebekundungen für sein Land.Doch damit gewinnt man nicht gegen Russland. Kiew brauche Taten. Dabei beklagt er zu viele Fehlentscheidungen und die Angst der NATO vor Russland. Die Ukraine werde weiterkämpfen und siegen, ist er im Interview mit ntv überzeugt.
ntv: Herr Außenminister Kuleba, vor einem Monat wurde Ihr Land von Russland angegriffen. Wenn Sie persönlich auf diese vier Wochen zurückblicken, diese Zerstörung und das Leid der Menschen, wie sehen Sie diese Zeit?
Dmytro Kuleba: Es waren vier Wochen unaussprechlichen Schmerzes, aber auch von riesigem Respekt für Ukrainer - und ich bin stolz darauf, ein Ukrainer zu sein. Ich bin stolz darauf, zu einem Volk zu gehören, das heldenhaft um seine Existenz kämpft, um die Werte, die Deutschland auch teilt; und diese zwei Gefühle - Schmerz und Stolz - sind die zwei Pole meines emotionalen Spektrums.
Wie viel Hoffnung spüren Sie, wenn Sie sich die Zukunft anschauen, also vielleicht die kommenden Wochen?
Nun, es kommt darauf an, was Sie mit Zukunft meinen. Ich habe keine Zweifel, dass die Ukraine in diesem Krieg siegen wird, dass wir unser Land wiederaufbauen und es noch besser wird als vor dem Krieg. Aber dieser Sieg wird einen Preis haben, und Zeit brauchen.
Heute haben wir einen Dreifachgipfel in Brüssel von EU, NATO, G7. Was sind Ihre Erwartungen?
Wir erwarten starke Handlungen. Wir schätzen all die Sympathiebekundungen und moralische Unterstützung, aber wir brauchen Handlungen, um den Krieg zu gewinnen. Sie können den Krieg nicht ausschließlich mit Worten gewinnen. Wir brauchen also Sanktionen, etwa das Schließen aller europäischen Häfen, aller US-Häfen für russische Schiffe und Waren; die Trennung aller russischen Banken von SWIFT, die Verhängung eines Embargos gegen russisches Gas, Öl und Kohle, - das sind die Maßnahmen, die die russische Kriegsmaschinerie wirklich aufhalten werden. Und ich hoffe auch, dass die Regierungen Ihrer Länder Großunternehmen dazu aufrufen werden, sich komplett aus Russland zurückzuziehen, dort keine Steuern zu zahlen und kein Geld in den russischen Staatshaushalt zu spülen, kein Geld in Russland zu erwirtschaften. Denn dieses Geld ist mit unserem Blut, mit ukrainischem Blut beschmiert.
Die NATO hat versprochen, mehr Waffen in die Ukraine zu schicken, Deutschland ebenfalls. Glauben Sie, dass das ausreicht, oder erwarten Sie mehr, insbesondere auch von Deutschland?
Nun, es ist nicht die NATO, die uns Waffen schickt, es sind einzelne NATO-Mitgliedsstaaten. Wir begrüßen die Entscheidung der Bundesregierung, ihre Politik zu ändern, nach der die Ukraine keine Waffen erhielt. Und wir sind dankbar für die Lieferungen, die wir bereits erhalten haben. Aber die Natur des Krieges ist sehr einfach: Man braucht mehr Waffen, bis man gesiegt hat. Und ich habe gehört, dass es in Deutschland eine Diskussion darüber gibt, welche Defensivwaffen an die Ukraine geliefert werden können, und welche Waffen nicht, weil sie nicht defensiv sind. Ich möchte sehr deutlich machen, dass jegliche Waffen, die von der ukrainischen Armee auf ukrainischem Staatsgebiet genutzt werden, per Definition defensiv sind. Ob es ein Flugzeug, ein Panzer oder eine große Haubitze sind - sie werden benutzt, um unser Land zu verteidigen. Wir haben nicht vor, irgendjemanden anzugreifen. Aber wir brauchen alle möglichen Waffen, um unser Land gegen den Aggressor zu verteidigen.
Können Sie akzeptieren, dass die NATO und auch Deutschland den Himmel über der Ukraine nicht schließen werden und keine Flugverbotszone einrichten, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben - dass es vielleicht zum Dritten Weltkrieg führt, dass es vielleicht dazu führt, dass die NATO eine Kriegspartei wird?
Wir kämpfen, und wir werden weiterkämpfen. Ich denke, dass die verpasste Entscheidung, den Himmel über der Ukraine zu schließen, ein Problem der NATO ist und kein Problem der Ukraine. Denn sie zeigen damit, dass sie Angst vor Russland haben. Wir haben keine Angst vor Russland. Wir kämpfen an jeder Ecke gegen sie, und vielerorts haben wir sie besiegt, denn wir haben keine Angst. Wenn wir Angst hätten, hätten wir diesen Krieg bereits verloren, und wir würden hier nicht miteinander sprechen. Ich wäre dann ein Außenminister im Exil, bestenfalls. Einige deutsche Politiker haben uns übrigens angedeutet: Wenn ihr im Exil arbeiten wollt, könnt ihr euch auf uns verlassen. Aber - nein, wir sind nicht im Exil, weil wir keine Angst haben. Und wenn die NATO Angst hat, dann wird Russland sowieso gewinnen. Es ist ihr Problem, nicht unser Problem, dass sie Angst haben.
Letzte Frage: Gestern hat Bundeskanzler Scholz sehr deutlich gemacht, dass es kein Gas- oder Ölembargo gegen Russland geben wird. Sind Sie enttäuscht?
Ja, denn mit der einen Hand helfen sie der Ukraine, mit der anderen zahlen sie Milliarden für russisches Gas und Öl und unterstützen die russische Aggression gegen die Ukraine. So kann man das nicht machen. Es gibt Zeiten, in denen es wichtig ist, eine Wahl zu treffen. Eine Neutralität, ein Gleichgewicht unterstützt in diesem Fall Russland. Das ist Fakt. Je stärker wir jetzt agieren, je striktere Maßnahmen wir jetzt ergreifen, desto schneller wird dieser Krieg vorbei sein. Und keine wirtschaftlichen Opfer sind vergleichbar mit den Opfern der Ukrainer. Wir verlieren unsere Leben, unsere Häuser, aber wir kämpfen.
Mit Denis Kuleba sprach Nadine to Roxel
Quelle: ntv.de