Politik

Ex-Oberst über die Verhandlungen "Es ist Zeit, Putin eine Exit-Strategie zu zeigen"

Spielt die russische Seite bei den Verhandlungen mit der Ukraine nur Theater?

Spielt die russische Seite bei den Verhandlungen mit der Ukraine nur Theater?

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Sicherheitsexperte Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik geht davon aus, dass die Verhandlungen mit der Ukraine nur Russlands Plan B sind - für den Fall eines militärischen Scheiterns. Die russischen Streitkräfte kommen allerdings an ihre Grenzen, deshalb könnte in einigen Wochen doch ein Verhandlungsergebnis den Krieg beenden. Womöglich vorbereitet von den USA und China sowie in Geheimverhandlungen, die bereits laufen dürften, wie der Oberst a.D. im Interview mit ntv.de erklärt.

ntv.de: Was halten Sie von den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine - alles nur Schein, wie es etwa die französischen und britischen Außenminister sehen?

Wolfgang Richter: Die Verhandlungen verlaufen zwar relativ detailliert, mit Unterarbeitsgruppen, aber gleichzeitig führt Russland alle militärischen Operationen weiter. Da diese offenbar stocken und nicht wie gewünscht verlaufen, beginnt Russland, Reserven zu mobilisieren. Deshalb habe ich den Eindruck, dass Russland mindestens eine Doppelstrategie fährt. Ich glaube, man hat es hier mit zwei Plänen zu tun - und der Plan B besagt, wenn es militärisch nicht klappt, muss man sich auf einen Frieden einlassen. Aber solange die möglichen Verhandlungsergebnisse nicht wie gewünscht ausfallen und Russland einen militärischen (Teil-)Sieg noch für möglich hält, wird es seine militärischen Anstrengungen weiter fortsetzen.

Frankreichs Außenminister Le Drian vergleicht Russlands aktuelles Vorgehen mit dem in den Kriegen in Syrien und Tschetschenien: "Erst bombardieren, dann sogenannte humanitäre Korridore einrichten, um dem Gegner vorzuwerfen, sie nicht zu respektieren, und schließlich verhandeln, nur um den Eindruck zu erwecken, dass verhandelt wird." Stimmt der Vergleich in Ihren Augen?

Ich glaube nicht, dass Russlands aktuelles Vorgehen mit Syrien und Tschetschenien vergleichbar ist, der Kontext ist ein völlig anderer, die strategische Lage eine andere. Es ging ja ursprünglich um Sicherheitsbedenken Russlands: das Heranrücken der NATO, die mögliche Stationierung alliierter Truppen oder Raketen in der Ukraine, die Ausweitung der Nuklear-Garantie der USA auf die Ukraine. Wenn dies jetzt aber von Prinzipienfragen oder gar imperialen Narrativen überlagert wird, handelt es sich um Prinzipienbrüche, die nicht verhandelbar sind. Denn sonst würde nicht nur die Souveränität der Ukraine, sondern auch die Grundlagen der europäischen Sicherheitsordnung zerstört, laut der etwa Grenzen unverletzlich sind. Würde dies weggewischt, könnten andere dem Beispiel folgen und wir hätten weitere Kriege zu befürchten.

Russland hat ja einen Kompromissvorschlag gemacht, der wieder in Richtung der ursprünglichen Fragen zurückging.

Ja, das russische Außenministerium hat dies getan. Demnach steht die militärische Neutralität der Ukraine im Vordergrund, also kein NATO-Beitritt; die Souveränität der Ukraine solle nicht angetastet werden, was allerdings bedeutet, dass man einen EU-Beitritt billigen müsste; drittens eine Demilitarisierung der Ukraine, wobei mir nicht klar ist, was genau damit gemeint ist. Dann steht da noch der üble Begriff "Entnazifizierung", über dessen Bedeutung auch wieder verhandelt werden müsste. Und dann sind wir bei Territorialfragen, bei denen Selenskyj unterschiedliche Signale gegeben hat. Schwierig wird es nicht nur bei der Frage der Anerkennung der De-facto-Kontrolle Russlands über die Krim, sondern vor allem bei den sogenannten "Volksrepubliken". Russland verlangt deren Anerkennung in den Verwaltungsgrenzen, das heißt auch derjenigen Gebiete, die vor dem russischen Angriff von der ukrainischen Regierung kontrolliert wurden. Zumindest müsste die Bevölkerung gefragt werden. Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit der Bevölkerung müssten international überwacht werden, um frei und fair zu verlaufen. Bei all diesen Fragen steckt der Teufel im Detail. Da ich bei den Verhandlungen keine Detailfortschritte sehe, glaube ich, Russland hält sich diese nur als Plan B offen.

Wolfgang Richter

Wolfgang Richter

(Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik)

Ist das auch der Grund, warum Putin ein direktes Gespräch mit Selenskyj bisher ablehnt?

Das hängt sicher damit zusammen, denn ein Gespräch zwischen den Präsidenten lohnt sich erst, wenn die Arbeitsgruppen schon konkrete Ergebnisse haben und die letzten Knackpunkte nicht lösen können, die nur die politische Leitung lösen kann. Dafür braucht man einen Text, in dem dann noch einige Klammern mit unterschiedlichen Auffassungen nebeneinander stehen, die nur die Präsidenten auflösen können. Wenn das gelingt, kann es ziemlich schnell gehen, denn wenn man zwei, drei Schlüsselfragen löst, fallen die anderen Klammern meistens auch weg. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Die Ukrainer stehen mit dem Rücken zur Wand, während die Russen die Initiative haben. Noch glauben beide Seiten, dass sie weiter durchhalten können, um die andere Seite zu mehr Zugeständnissen zu zwingen. So lange wird auch der Krieg weitergehen.

Wie lange kann Putin auf die Unterstützung seiner Bevölkerung zählen?

Die Ukrainer haben bereits eine hohe Leidensbereitschaft gezeigt und werden diese wohl auch noch weiter zeigen. Wie lange der wachsende Druck in Russland ausgehalten wird, da bin ich mir nicht so sicher. Jetzt kommen Tausende von Leichen junger russischer Soldaten in Särgen zurück. Das Leid erreicht die Familien auf beiden Seiten, die vielfach miteinander verflochten sind. Als die Sowjetunion zusammenbrach, sind ja viele Ukrainer in Russland geblieben und umgekehrt. Das wirkliche Geschehen wird sich trotz der Propaganda irgendwann herumsprechen. Wenn dann noch die Sanktionen dazukommen, die ja auch die russische Mittelschicht treffen, dann wird der Druck größer werden. Die Bevölkerung wird fragen, ob all das nötig war, ausgerechnet in einem "Bruderkrieg" zwischen zwei Völkern, die historisch, kulturell und familiär eng verbunden sind. Wenn der Unmut die Eliten erreicht, könnte auch Putins Position in Gefahr geraten. Dann stellt sich die Frage, ob er zu Kompromissen bereit ist oder sich um jeden Preis an der Macht festklammert, auch um den der Eskalation. Da sind sich Experten uneins. Ich glaube deshalb, es ist an der Zeit, Putin zu zeigen, dass es eine Exit-Strategie gibt, aus der er "gesichtswahrend", soweit man das überhaupt noch sagen kann, herauskommt - mit einer Lösung, die er in Moskau als Teilerfolg verkünden kann.

Wie könnte so ein Angebot einer Exit-Strategie an Putin aussehen?

Ich werde nicht aus der Ferne den Ukrainern empfehlen, was sie tun sollen. Ich kann nur analysieren, was Selenskyj gesagt hat. In der Frage des NATO-Beitritts hat er sich kompromissbereit gezeigt, sein Schwerpunkt liegt nun beim EU-Beitritt. Da stellt sich für den russischen Präsidenten die Frage, ob er das als gesichtswahrenden Erfolg verkaufen kann: Kein NATO-Beitritt, aber dann müsste er die bittere Pille schlucken, dass ein EU-Beitritt der Ukraine weiter möglich ist, wenn die Souveränität der Ukraine im Übrigen erhalten bleibt. Dann geht es um Territorialfragen. Hier werden nach jetzigem Stand Kompromisse schwerer zu erreichen sein. Aber schon in der Vergangenheit gab es kluge diplomatische Formulierungen, die Territorialfragen offen gehalten haben, etwa in der Schlussakte von Helsinki von 1975 im Hinblick auf eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands.

Rechnen Sie also eher mit einem Verhandlungsergebnis oder wird dieser Krieg aus anderen Gründen enden?

Ich glaube, dass der Krieg noch eine ganze Weile weitergehen wird. Denn wir sehen im Moment keine operativen Bewegungen mehr an der Front, nur noch in wenigen Ausnahmen. Mariupol ist hart umkämpft, weil die Stadt der Vollendung des russischen Korridors zwischen dem Donbass und der Krim noch im Wege steht. Die russischen Truppen reiben sich in Stadtkämpfen um Charkiw und Kiew auf, wollen Odessa erobern, um die Schwarzmeerküste von Zufuhren über See abzuriegeln. Ich könnte mir vorstellen, dass das in einen Abnutzungskrieg übergeht, in dem sich die Fronten kaum noch bewegen. Selbst wenn die Russen, wie jetzt mit Hyperschallraketen, modernere Waffen einsetzen, können sie zwar präzise Ziele zerstören. Damit gewinnt man aber keinen Raum. Ihre Einschließungsringe um ukrainische Städte sind ihrerseits verwundbar. Die Ukrainer bekommen intensive Unterstützung aus dem Westen, Waffen und Logistik, aber auch finanzielle und humanitäre Hilfe. Die Ukrainer werden also noch eine ganze Weile durchhalten, selbst wenn Mariupol fällt.

Wie lange wird der Krieg noch dauern?

Wir sprechen wohl eher von Wochen als von Tagen. Aber in absehbarer Zeit werden auch die westlichen Sanktionen wirken und einschneidende wirtschaftlichen Folgen in Russland haben. Außerdem sind die russischen Streitkräfte strategisch überdehnt. Von den 320.000 Soldaten der Bodentruppen, wenn ich Heer und Fallschirmjäger zusammenzähle, sind weit über die Hälfte im Einsatz in der Ukraine. Die russischen Streitkräfte müssen aber auch andere strategische Hotspots abdecken, unter anderem die Grenze zur NATO im Baltikum, wo sie derzeit relativ schwach sind. Sie müssen ihre Atomflotte in Murmansk schützen, weitere potenzielle Krisenherde liegen im Kaukasus und in Zentralasien. Sie führen im Moment ihre letzten aktiven Reserven aus fernen Landesteilen heran, und viel mehr ist dann auch nicht mehr möglich. Dass sie jetzt auf fremde Legionäre zurückgreifen oder sogar Jugendorganisationen mobilisieren wollen, zeigt, wie schlecht die militärische Operation in der Ukraine läuft. Das könnte ein Grund sein, Schluss zu machen und gesichtswahrend gegenüber der eigenen Bevölkerung rauszukommen.

Wer könnte dabei erfolgreich vermitteln?

Es gibt im Moment keinen neutralen Dritten, der das nötige Gewicht mitbringt. Neutrale Staaten wie Österreich oder die Schweiz können dies nicht; sie können ihre guten Dienste anbieten etwa bei der internationalen Überwachung eines Abkommens. Für eine politische Friedenslösung braucht man aber mächtige Staaten, denn es geht ja auch um Sicherheitsgarantien für einen künftigen Status der Ukraine. Am Ende wird natürlich auch der amerikanische Präsident mit Putin sprechen müssen. Das werden die beiden irgendwann wieder tun, zumal sie strategische Stabilitätsgespräche fortführen müssen, um das nukleare Gleichgewicht zu halten. Der Zwang, sich mit Russland auch auf strategischer Ebene zu einigen, ist natürlich nach wie vor da. Das will nur im Moment keiner machen, solange das Blutvergießen weitergeht, mit dieser russischen Führung ohnehin nicht, weil sie Tabus gebrochen hat. Trotzdem wird es nötig sein. Und wir hören ja fast täglich von Telefonanrufen von Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz. Vielleicht gibt es auch bereits Geheimverhandlungen; die müssten allerdings mit den Ukrainern stattfinden, nicht über sie hinweg.

Könnte China bei einer Lösung helfen?

Ob Xi Jinping als Vermittler in Frage kommt, ist fraglich, aber seine Äquidistanz zur Ukraine und zu Russland könnte von Nutzen sein. China bekennt sich einerseits demonstrativ zu den Prinzipien des Völkerrechts, der Integrität der Staaten, des Gewaltverbots und der Nichteinmischung. Es braucht den freien Welthandel für seinen eigenen Aufstieg. Andererseits will es seinen strategischen Partner Russland nicht verlieren, mit dem es in Gegnerschaft zu den USA verbunden ist. Sollten sich China und die USA auf eine Vermittlung verständigen können, wäre dies sicher ein Fortschritt.

Die USA im Schulterschluss mit China könnten also die Lösungsbringer werden?

Das ist nur eine denkbare Konstellation. Es könnte hilfreich sein, wenn sie sich zumindest auf eine minimale Kompromissformel, einen Anreiz für beide Konfliktparteien verständigen, etwa die Anerkennung legitimer Sicherheitsinteressen der Ukraine und Russlands. Aber die Details einer Lösung werden nicht zwischen den Chinesen und Amerikanern ausgehandelt. Das geht nur in Europa unter Einbeziehung der Ukrainer. Und da kommt natürlich auch das Normandie-Format wieder ins Spiel, also eine deutsch-französische Moderation, aber auch die Türkei oder Israel. Wer nun das größere Gewicht in einem international unterstützten Friedensprozess hat, ist schwer absehbar. Wenn die militärischen Erfolge ausbleiben, muss Putin sich auch mit Scholz, Macron und vor allem Biden wieder verständigen. Aus westlicher Sicht kann ein Kompromiss allerdings nicht allzu weitgehend sein, wenn eine Aggression nicht belohnt werden soll.

Sind die genannten Länder auch die, die möglicherweise schon jetzt im Geheimen verhandeln?

Das wissen wir nicht, eben weil solche Verhandlungen "geheim" sind. Aber es gibt immer sogenannte "Backchannels", die gab es auch während des Kalten Krieges und während der heißen Kriege, etwa in Vietnam. Geheimverhandlungen führen nicht nur die Geheimdienste, sondern auch Teilnehmer aus den Außenministerien, aus den militärischen Bereichen etc. Oft kennen sich die Beteiligten und haben eine gewisse Vertrauensbasis. Ich gehe davon aus, dass diese Kontakte weiter bestehen, sie werden nur nicht öffentlich gemacht.

Mit Wolfgang Richter sprach Christina Lohner

Quelle: ntv.de

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