Experte zu Offensive in Cherson "Es steht Spitz auf Knopf"
05.09.2022, 10:34 Uhr (aktualisiert)
Russland dementiert eine Offensive von ukrainischer Seite.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Die ukrainische Gegenoffensive will in der Region Cherson russische Truppen zurückzudrängen. Dank der westlichen Hightech-Waffensysteme und einer "Austrocknungstechnik" könnte ihnen das sogar gelingen, sagt Sicherheitsexperte Weber. Doch in einer Sache sei Russland der Ukraine überlegen.
ntv.de: Das ukrainische Militär hat an der südlichen Front mit einer seit Langem erwarteten Gegenoffensive begonnen. Dort sollen ukrainische Truppen die russischen Frontlinien durchbrochen haben. Ist das jetzt schon die groß angekündigte Gegenoffensive?

Joachim Weber ist Politikwissenschaftler und Experte für Sicherheitspolitik an der Universität Bonn.
Joachim Weber: Es sieht alles danach aus, dass das jetzt wohl eine größere Operation ist. Es gab davor auch immer wieder einzelne Vorstöße. Aber es macht ein bisschen den Eindruck, dass das in den vergangenen Wochen eher ein Abtasten gewesen ist für die größere Offensive, die jetzt allem Anschein nach gestartet ist. Es gibt erste Berichte, dass die russische Frontlinie durchbrochen worden sei. Allerdings stehen die russischen Truppen dort sicherlich etwas tiefer, sodass der Durchbruch durch die erste Linie, wenn er erfolgt ist, noch nicht viel heißen muss.
Der ukrainische Journalist Illia Ponomarenko vom "Kiew Independent" hat davor gewarnt, die Angriffe in Cherson als die große Gegenoffensive zu betiteln. Er glaubt, dass da noch etwas Größeres kommt. Was könnte er damit gemeint haben?
Aus militärischer Sicht ist es für den Angreifer immer am besten, gar nicht über geplante Offensiven zu reden. Aber die ukrainische Regierung hat sie seit Wochen angekündigt und von einer großen Befreiungsaktion gesprochen. Für sie hängt politisch viel davon ab, dass diese Offensive gelingt. Rückschläge können massive politische Konsequenzen für die Regierung in Kiew haben. Umgekehrt ist es für die Russen natürlich auch heikel. Putin will und muss Erfolge vorweisen, und zumindest an diesem Frontabschnitt droht ein Misserfolg. Letztlich wird die Entwicklung der Lage auf dem Schlachtfeld darüber entscheiden, für wen das eine militärische und möglicherweise auch eine politische Schlappe wird. Sicher ist nur: Für beide Seiten steht sehr viel auf dem Spiel.
Russland hat den Vorstoß der Offensive bereits "erbärmlich gescheitert" genannt und dementiert auch jegliche Kämpfe an der Frontlinie. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Angriffe Erfolg haben, wenn Russland nicht mal zugeben möchte, dass überhaupt Kämpfe stattfinden?
Die russische Stellungnahme ist in sich widersprüchlich: Scheitern kann die Offensive ja nur, wenn es intensive Kämpfe gab. Wenn man es politisch interpretiert, sind solche Statements aber in der Tat eher als ein Indiz dafür zu werten, dass es möglicherweise dort für die Russen schlechter läuft, als sie es gerne haben wollen. Aber wir müssen hier wirklich an jeder Stelle und in beide Richtungen vorsichtig sein. Ich bin wenig geneigt, jetzt der einen oder der anderen Seite sehr viel zu glauben. Wir werden eine Zeit lang mit unseren Interpretationen leben müssen. Nicht alle offensiven Vorstöße der Ukraine sind in den letzten Wochen gut gegangen. Eine sehr bedeutende Brigade der ukrainischen Armee mit einem sehr populären Brigade-Kommandeur hat versucht, den Russen Gebiete wieder zu entreißen. Diese Brigade ist zerschlagen worden. Die Russen haben sie großenteils eingekesselt und mit ihrer Überlegenheit an Artillerie zusammengeschossen. Das könnte durchaus wieder passieren.
Der britische Geheimdienst geht davon aus, dass die russischen Besatzer trotz erheblicher Verstärkung unter Personal- und Nachschubproblemen leiden. Die meisten Einheiten seien unterbesetzt. Ist das nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Ukraine diese Gegenoffensive so lange angekündigt hat?
Natürlich haben die Russen mitbekommen, was die Ukrainer vorhaben - die ukrainische Regierung hatte es ja auch öffentlich angekündigt. Und selbst wenn sie es nicht angekündigt hätte, hätten die Russen mitbekommen, dass die Ukraine größere Verbände in den Südosten und in die Region um Cherson verlegt hat. Darauf haben sich die Russen natürlich eingestellt. Sie haben möglicherweise bis zu 25.000 Mann in diese Region verlegt, haben damit aber auch deutlich ihre Offensivkraft im Donbass geschwächt. Dort geht es seit Mitte August überhaupt nicht mehr voran für die Russen und auch vorher nur noch sehr langsam. Mit ihren Truppenbewegungen haben die Russen durchaus versucht, auf die Pläne der Ukrainer zu reagieren. Aber die Ukraine hat es dank der westlichen Hightech-Waffensysteme anscheinend sehr erfolgreich geschafft, die russischen Nachschublinien zu stören und teilweise auch die Munitionsdepots zu zerstören. Damit haben die Ukrainer die russische Armee teilweise in eine Situation gebracht, die man im NATO-Sprachgebrauch als "battlefield interdiction" bezeichnet.
Was bedeutet das?
Das heißt, das Schlachtfeld wird von hinten ausgetrocknet, die Russen werden von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten. Das ist vor allen Dingen die Zerstörung der Brücken über den Dnjepr, sodass die auf dem westlichen Flussufer kämpfenden russischen Truppen wahrscheinlich nicht mehr genug Nachschub bekommen. Da nützt ihnen auch ihre Überlegenheit an Artillerie nichts. Sie können zehnmal so viele Kanonen da stehen haben, ohne Munition hilft ihnen das nichts. Das ist eine insgesamt sehr heikle Lage für die Russen. Wir werden sehen, ob die Ukrainer wirklich genug Offensivkraft aufbieten können, um sie in eine für die Russen prekäre Situation zu verwandeln. Dann könnte eine Niederlage der russischen Truppen zumindest auf dem westlichen Flussufer drohen. Aber all das ist noch mit Vorsicht zu bewerten.
Wie lange können die Russen der Gegenoffensive standhalten, wenn ihnen nach und nach die Versorgung zusammenbricht?
Das ist schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, wie viel Nachschub wofür und in welchem Ausmaß noch durchkommt. Kleinere Dinge, wie Infanterie-Munition, vielleicht auch Verpflegung für die Truppe und dergleichen, wird sicherlich über die schwer beschädigten Brücken noch rüberkommen oder mit kleinen Booten über den Fluss gefahren. Artilleriemunition dagegen ist sehr schwer und voluminös, das ist Schwerlastverkehr. Ein Artilleriebataillon hat in einem Kampfeinsatz einen Verbrauch von ungefähr 300 Tonnen pro Tag. Insofern wird das für die Russen schwierig. Die Brücken sind wohl so beschädigt, dass da kein Schwerlastverkehr mehr rollen kann. Das kann die Russen austrocknen.
Das hört sich so an, als ob die Ukraine eine realistische Chance hätte. Sie bekämpfen die Truppen an der Frontlinie und gleichzeitig beschießen sie russische Munitionslager und versuchen, die Versorgung zu unterbrechen. Was müsste passieren, dass Russland es schafft, die Situation wieder zu drehen?
Da müsste Russland bedeutend mehr Kräfte aufbieten. Die Tatsache, dass sie in den letzten Wochen und Monaten nicht bedeutend mehr Kräfte aufgeboten haben, zeigt, dass sie diese Kräfte derzeit nicht zur Verfügung haben. Die Russen haben nicht nur mit materiellem Nachschub erhebliche Probleme, sondern auch mit einigermaßen ausgebildetem Personal. Solange Putin nicht einen wirklichen Kriegszustand erklärt und zur Generalmobilmachung aufruft, wird er es wohl nicht schaffen, die russischen Kräfte nennenswert zu verstärken.
Das heißt?
Das heißt, die Russen können ihre Kräfte entlang des ganzen Frontbogens, von Charkiw bis nach Cherson, nur hin und her schieben - immer dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Die Russen haben nach wie vor eine Überlegenheit bei den schweren Waffen. Dafür haben die Ukrainer dank der westlichen Systeme eine gewisse technische Überlegenheit. Was derzeit an Truppen von beiden Seiten aufgeboten werden kann, ist von der Anzahl her wohl ziemlich ähnlich. Kurzum: Es steht einmal mehr Spitz auf Knopf.
Mit Joachim Weber sprach Vivian Micks
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 31. August 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de