Politik

Stoltenberg betont Norwegens Offenheit Gaarder: "Unschuld verloren"

Rosen am Absperrzaun in Oslo.

Rosen am Absperrzaun in Oslo.

(Foto: REUTERS)

Norwegens Regierungschef Stoltenberg will auf die Anschläge mit Offenheit reagieren - doch der bekannte norwegische Philosoph Gaarder widerspricht: "Vielleicht müssen wir mehr Sicherheitsmaßnahmen tolerieren", sagt er. Attentäter Breivik sei Osama bin Ladens Bruder im Geiste, so Gaarder. Die deutsche Bundesregierung lehnt indes ein neues NPD-Verbotsverfahren ab.

Der norwegische Schriftsteller und Philosoph Jostein Gaarder ("Sofies Welt") hat den Attentäter von Oslo und Utøya als "Geistesbruder von Osama bin Laden" eingestuft. "In seinem grenzenlosen Hass ähnelt er jenen, die er selbst am meisten hasst, den Islamisten", sagte Gaarder der "FR".

Ein Regierungschef ringt um Fassung: Stoltenberg kannte einige der Opfer persönlich.

Ein Regierungschef ringt um Fassung: Stoltenberg kannte einige der Opfer persönlich.

(Foto: REUTERS)

Gaarder glaubt nicht, dass sich der Doppel-Anschlag in Oslo und auf der Insel Utøya als "norwegischer Fall" isolieren lässt. "Das hätte auch in Schweden, Finnland oder in Deutschland passieren können." Er zeigte sich skeptisch, ob sich die Forderung von Premier Jens Stoltenberg, Norwegen dürfe sich nach dem Massaker nicht seine offene Gesellschaft wegnehmen lassen, umsetzen lasse. "Wir haben in ein Gesicht des Bösen geblickt, das wir uns so vorher nicht vorstellen konnten. Wir haben unsere Unschuld verloren", sagte Gaarder. "Vielleicht müssen wir Norweger künftig tatsächlich mehr Sicherheitsmaßnahmen tolerieren."

"Werte verteidigen"

Zuvor hatte Stoltenberg gesagt, Norwegen lasse sich durch die Anschläge von Oslo "nicht einschüchtern". Auf die Gewalt werde das Land mit mehr Offenheit und Demokratie reagieren, so der Sozialdemokrat. "Wir werden unsere Werte weiter entschlossen verteidigen."

Nach einer Zeit der Trauer würden die Reaktion der Polizei und die Sicherheitsmaßnahmen aber auf den Prüfstand gestellt, kündigte Stoltenberg an. "Die Organisation und die Kapazitäten der Polizei werden überprüft." Diese Zeit sei aber jetzt nicht gekommen: "Noch geht es darum, die Angehörigen der Opfer zu trösten und den vielen Verletzten beizustehen." Der Regierungschef kannte mehrere Opfer des Massakers auf Utøya persönlich. Er begrüße aber die Diskussion über die Sicherheit, so Stoltenberg. Ob er eine grundlegende Reform der norwegischen Sicherheitskräfte ins Auge fasst, ließ er offen.

Parteieintritte nehmen zu

Die Trauer bleibt: vor der Kathedrale der norwegischen Hauptstadt.

Die Trauer bleibt: vor der Kathedrale der norwegischen Hauptstadt.

(Foto: REUTERS)

Stoltenberg ist auch überzeugt, dass die Anschläge das Interesse der Norweger an Politik stärken würden. Er habe seit "viele wichtige Signale" dafür erlebt, dass Norwegen nach den Terroranschlägen "eine noch offenere und tolerantere Demokratie sein wird als vorher". Als Beispiel nannte er massive Eintritte bei politischen Parteien in Norwegen als Reaktion auf den Terror. Der Vorsitzende der Arbeiterpartei und Regierungschef sagte weiter:"Es ist für uns klar, dass es in Norwegen eine Zeit vor und eine Zeit nach dem 22. Juli gibt."

Am Freitag hatte der 32-jährige Anders Behring Breivik 76 Menschen getötet, die meisten davon bei einem rund einstündigen Amoklauf auf der Insel Utöya nahe Oslo. Stunden vorher hatte er durch einen Bombenanschlag im Regierungsviertel der Hauptstadt acht Menschen das Leben genommen. Breivik hat die Taten gestanden.

Als eine erste Konsequenz werden die Polizeikräfte in den beiden Anschlagsgebieten verstärkt. Nach Angaben einer Sprecherin der Polizeigewerkschaft will das Justizministerium umgerechnet rund 2,6 Millionen Euro für die Schaffung von hundert zusätzlichen Stellen in Oslo und dem Bezirk Nordre Buskerud zur Verfügung stellen. Diese sollten innerhalb der kommenden drei Monate mit ausgebildeten Polizeischülern besetzt werden, die bisher noch keine Stelle gefunden hätten.

"Ein einsamer Wolf"

Das Andenken an die Opfer wird hochgehalten.

Das Andenken an die Opfer wird hochgehalten.

(Foto: REUTERS)

Nach Erkenntnissen des norwegischen Geheimdienstes ist der Attentäter Breivik ein Einzeltäter, der mit Berechnung getötet hat. Für seine Behauptung, gewaltbereite Komplizen in Norwegen und im Ausland zu haben, fehle jeder Beweis. Dem britischen Sender BBC sagte die Chefin des norwegischen Geheimdienstes PST, Janne Kristiansen: "Breivik hat allein gehandelt." Mehrere norwegische Zeitungen zitierten die Geheimdienstchefin zudem mit der Äußerung: "Dies ist ein einsamer Wolf, der unter alle unsere Radarsysteme schlüpfen konnte."

Der 32-Jährige hatte bei Verhören und vor dem Haftrichter behauptet, er habe Verbindung zu zwei "Zellen", die zur Ausführung weiterer Anschläge bereit seien. Kristiansen bestätigte, dass man dies weiter "mit höchster Intensität" überprüfe. Es gebe aber keine Indizien. Die Behauptungen Breiviks entstammten wahrscheinlich seinem Wunsch, "weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit zu bleiben". Die norwegische Geheimdienstchefin bestätigte eine enge Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst MI5 wegen angeblicher Kontakte Breiviks mit rechtsradikalen Gruppen auf der Insel. Auch dazu gebe es bisher keine Erkenntnisse.

Geheimdienst widerspricht Anwalt

Kristiansen wies zudem die Vermutung von Breiviks Anwalt Geir Lippestadt zurück, der 32-Jährige sei geisteskrank. "Ich begreife ihn als zurechnungsfähige Person, denn er hat sich für eine sehr lange Zeit auf eine Sache konzentrieren können." Kristiansen, die selbst als Anwältin gearbeitet hatte, sagte: "Er hat alles so richtig gemacht. Und nach meiner Erfahrung mit dieser Art Klienten sind sie völlig normal, auch wenn sie im Kopf ziemlich verquer sind. Und diese Person ist außerdem total böse."

Auch vor der Insel Utöya haben Menschen Blumen und Karten niedergelegt.

Auch vor der Insel Utöya haben Menschen Blumen und Karten niedergelegt.

(Foto: REUTERS)

Breiviks Anwalt Geir Lippestad hatte am Dienstag erklärt, er halte seinen Mandanten für geisteskrank. Dazu sagte Kristiansen, Lippestad sei kein Psychiater, "und das bin ich auch nicht". Der Attentäter soll demnächst im Ila-Gefängnis westlich von Oslo von zwei Rechtspsychiatern untersucht werden.

Der Attentäter hatte offensichtlich in einem Schützenclub trainiert. Der Osloer Pistolenclub teilte auf seiner Internetseite mit, dass Breivik von 2005 bis 2007 und erneut ab Juni 2010 Mitglied gewesen sei. Er habe an 13 Trainingseinheiten mit anderen sowie einem Wettbewerb teilgenommen, hieß es.

Auf dem Bauernhof von Breivik hatte die Polizei am Dienstag weiteren Sprengstoff kontrolliert explodieren lassen. Die Farm rund 160 Kilometer nördlich von Oslo sei von Breivik angemietet gewesen.

Einzelhaft unter Beobachtung

Kronprinz Haakon besuchte eine Moschee in Oslo - als Zeichen der Zusammengehörigkeit.

Kronprinz Haakon besuchte eine Moschee in Oslo - als Zeichen der Zusammengehörigkeit.

(Foto: REUTERS)

Breivik will den Bombenanschlag in Oslo und das Massaker auf der Insel Utøya über neun Jahre vorbereitet haben. Er wurde Dienstagabend in die Anstalt Ila westlich von Oslo für eine zunächst achtwöchige Untersuchungshaft gebracht.

Er wird in einer sieben Quadratmeter großen Zelle rund um die Uhr überwacht, um einen Selbstmord auszuschließen. Die ersten vier Wochen der Untersuchungshaft muss er mit fast kompletter Kontaktsperre verbringen. Nach den Angaben des Gefängnisdirektors Knut Bjarkeid in "Verdens Gang" gibt es in Breiviks Zelle nur Bett, Toilette, Stuhl und einen Tisch. In dieser Zeit darf der geständige Attentäter ausschließlich mit seinem Anwalt Geir Lippestad und der Polizei sprechen. Außerdem sollen zwei Rechtspsychiater mit einer mehrmonatigen Untersuchung des Inhaftierten auf seinen Geisteszustand beginnen.

Derweil sorgten zwei Ereignisse am Mittwoch für Aufregung. Nach dem Fund eines Gepäckstückes in einem Bus am Hauptbahnhof in Oslo evakuierte die norwegische Polizei am Vormittag das Gebäude und riegelte das Gelände ab. Polizeibeamte, Feuerwehrleute und Sanitäter wurden an dem Ort zusammengezogen. Ein ferngesteuerter Roboter entdeckte aber nur harmlosen Inhalt in dem Gepäckstück. Für Verwirrung sorgte auch die Warnung der Polizei vor einem Mann, der sich mit Breivik identifiziert haben soll. Der Fahndungsaufruf sei irrtümlich herausgegeben worden, sagte ein Polizeisprecher. Die Polizei suche nur nach einem Mann, der geistig erkrankt sei und nichts mit Breivik zu tun habe.

Rechsextreme in Deutschland

Geir Lippestad, der Anwalt des Attentäters.

Geir Lippestad, der Anwalt des Attentäters.

(Foto: REUTERS)

In Deutschland stieß das aus den Reihen der SPD erneut geforderte Verbot der rechtsextremen NPD in der Bundesregierung auf Ablehnung. "Jeder muss wissen, dass ein solches Verbotsverfahren mit erheblichen Risiken behaftet ist", sagte Innenminister Hans-Peter Friedrich der "Rheinischen Post". So müssten im Zuge eines solchen Verfahrens beispielsweise die V-Leute "abgeschaltet" werden. "Dies erscheint mir unter Sicherheitsgesichtspunkten zu riskant", erklärte der CSU-Politiker. Im Jahr 2003 war ein solches Verbotsfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert, weil die Rolle von V-Leuten des Verfassungsschutzes in der Führungsspitze der NPD ungeklärt war.

Nach dem Doppelanschlag ist die rechtsextremistische Szene auch in Deutschland ins Visier der Sicherheitsbehörden gerückt. "Wir beobachten die rechtsextremistische Szene intensiv", so Friedrich. Zwar nehme die Zahl der Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen ab, dafür steige die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten. "Sorgen machen mir insbesondere die sogenannten 'nationalen Autonomen', die sich zunehmend nach dem Beispiel der Linksautonomen formieren." Friedrich verwies auf die Dunkelziffer. "Wir kennen bei den Rechtsextremisten einige Gefährder, aber das Problem sind nicht die, die wir im Auge haben, sondern eher die, die sich im Verborgenen radikalisieren."

Quelle: ntv.de, dpa/rts/AFP

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