Masala befürchtet "Stil des IS" Hamas will Exekutionen "live ins Internet stellen"
10.10.2023, 21:29 Uhr Artikel anhören
Angehörige von Hamas-Opfern, die als Geiseln in Gaza vermutet werden, versuchen, das Leben ihrer Lieben zu retten.
(Foto: IMAGO/UPI Photo)
Eine blutige Bodenoffensive in Gaza befürchtet Carlo Masala. Die Hamas kündigt an, Exekutionen von Geiseln im Internet zu zeigen - "vom Stil her ist das IS", sagt der Sicherheitsexperte. Aus seiner Sicht hat Israel keine andere Wahl als den Versuch, die Hamas "komplett zu zerstören".
ntv.de: Herr Masala, der Gazastreifen ist 40 Kilometer lang und maximal 14 Kilometer breit. Die Hamas hat ihre Quartiere dort mitten in Wohnvierteln, im unterirdischen Tunnelgeflecht. Bedeutet eine Bodenoffensive, die Bevölkerung hat eigentlich keine Chance zu entkommen?
Carlo Masala: Zunächst mal fordert Israel die Bevölkerung ja auf, Gaza zu verlassen.
Aber wohin? Ägypten hat offenbar die Grenze geschlossen.
Ägypten lässt 2000 Flüchtende pro Tag ins Land. Das ist nicht viel, aber bis gestern hat Israel vor den Luftschlägen zudem Hinweise gegeben, wo sich die Zivilbevölkerung hinbewegen kann, wenn sie Gebäude verlässt, die bombardiert werden sollen. Die Menschen konnten Zonen aufsuchen, die verschont wurden. Diese Praxis galt bis gestern. Wir müssen gucken, ob die israelischen Streitkräfte sie aufrechterhalten. Das wissen wir nicht.

Der renommierte Sicherheitsexperte Carlo Masala ist Professor an der Universität der Bundeswehr in München und Co-Host des beliebten Podcasts "Sicherheitshalber". Sein neues Buch heißt "Bedingt abwehrbereit".
Gaza ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete weltweit. Wie herausfordernd würde das für die israelischen Streitkräfte?
Eine Bodenoffensive in einem urbanen Umfeld gehört zu den gefährlichsten und kompliziertesten Operationen, die Sie als Armee durchführen können. Sie bewegen sich dort in einem dreidimensionalen Raum, weil der Feind von vorne, von hinten, von oben und von unten angreifen kann. Wenn die Bodenoffensive erfolgen sollte, wovon ich ausgehe, dann wird das sehr schmutzig und sehr blutig. Und wir wissen auch, dass die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde gebraucht, worauf die Israelis wahrscheinlich keine Rücksicht nehmen werden.
Mit welcher Dauer rechnen Sie?
Das wird nicht schnell gehen. Dort leben knapp 1,8 Millionen Einwohner auf 360 Quadratkilometer Häuserschluchten. Das wird alles sehr hässlich werden.
Wie problematisch wäre das verzweigte Tunnelsystem, in dem die Hamas Waffen lagert und Truppen verschiebt?
Die Hamas-Terroristen brauchen sich ja nur in der Kanalisation zu verstecken. Und in dem Moment, in dem Truppen oben drüber laufen, schießen sie aus der Kanalisation heraus. Da reden wir noch gar nicht über die Tunnelsysteme, sondern einfach nur über das Abwassernetz. Es klingt sehr technisch, aber man muss einfach sagen, das ist ein dreidimensionaler Gefechtsraum.
Die Israel Defense Forces (IDF), also die Streitkräfte, genossen bislang international einen enorm guten Ruf. Am Wochenende hat der gelitten, die Performance war nicht gut.
Nein, nein. Die IDF haben deshalb nicht geliefert, weil sie nicht vor Ort waren. Das war eine politische Entscheidung, dass die IDF nicht dort sind, sondern im Westjordanland. Da kann man nicht von einer schlechten Performance der Streitkräfte reden. Sie waren einfach nicht da. Was heißt die Bodenoffensive für die IDF? Die politisch Verantwortlichen, die sie da rein schicken, gehen ein hohes Risiko ein mit Blick auf die eigenen Verlustzahlen.
Besteht ein solches Risiko auch mit Blick auf den strategischen Ausgang? Anders gefragt: Gäbe es überhaupt die Option, dass Israel den Gazastreifen nicht als Sieger verlässt?
Das erklärte Ziel ist, einen militärischen Sieg über die Hamas zu erringen. Am Ende dieser Operation soll es im Prinzip keine Hamas mehr geben, die ein relevanter militärischer oder politischer Akteur im Gaza und im Mittleren und Nahen Osten wäre. Ob das erreicht wird, ist eine andere Frage, aber bis es erreicht ist, wird diese Operation dauern. Das wird nicht - wie in der Vergangenheit - ein kurzes Reinstoßen aus der Luft oder am Boden, sondern es wird eine langfristige Operation, bis dieses militärische Ziel erreicht ist.
Die Hamas ist keine Armee, die Videos vom Wochenende zeigten viele junge Leute in T-Shirt und Turnschuhen. Wie nimmt man die unter 1,8 Millionen Bewohnern ins Visier?
Es geht gar nicht darum, jeden Hamas-Kämpfer zu töten. Im Visier ist die militärische und politische Führung. Ein Teil der politischen Führung sitzt in Katar, aber der Teil, der im Gazastreifen ist, soll eliminiert oder festgenommen werden. Ziel ist auch, die Logistik der Hamas komplett zu zerstören. Ist das geschafft, können sie damit leben, dass noch 1000 Kämpfer dort rumlaufen, die eine Kalaschnikow haben. Aber die haben dann keine Raketen mehr, keine Kommando- und Kontrollstrukturen mehr. Und sie existieren nicht mehr als politischer Akteur, der Gaza beherrscht. Sie müssen ihnen die Fähigkeit nehmen, in Zukunft noch politisch und militärisch zu agieren.
Eben erwähnten Sie Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Noch besser eignen sich in den Augen der Hamas wohl die 100 bis 150 Geiseln als Druckmittel. Kann man eine Bodenoffensive so durchführen, dass diese Leute eine Chance haben, am Leben zu bleiben?
Nein. Zumal der Leiter des politischen Büros der Hamas heute erklärt hat, man werde erst dann über die "Gefangenen der Widerstandskräfte" sprechen, wenn die Militärkampagne beendet sei. Es gibt also keinen Gefangenenaustausch. Stattdessen hat die Hamas angekündigt, dass für jeden Angriff, bei dem Zivilisten in Gaza ums Leben kommen, Geiseln getötet werden, und dass sie das live ins Internet stellen. Vom Stil her ist das "Islamischer Staat".
Und vermutlich fehlt es dem israelischen Geheimdienst an Informationen, wo die Geiseln überhaupt sind?
Das befürchte ich. Und die Terroristen werden diese 100 bis 150 über ganz Gaza verteilt haben. Ich gehe davon aus, dass eine große Anzahl der Geiseln diesen Krieg nicht überlebt.
Das klingt unvorstellbar grausam. Falls das so passieren sollte - die Bodenoffensive läuft und zeitgleich zeigt man auf Instagram Exekutionen israelischer Geiseln, kann Israel dann überhaupt fortfahren? Ist das auszuhalten für die Bevölkerung?
Ja, Israel wird fortfahren. Es ist ja ganz klar gesagt worden, dass man in dieser Situation nicht die alte israelische Praxis verfolgt, die Geiseln rauszuholen, weil man weiß, dass die Hamas darüber sehr lange verhandeln würde. Man wird eine Bodenoffensive durchführen, und damit ist klar, dass Israel das Leben der Geiseln riskiert. Und ich glaube, dass die Dimension der Ereignisse vom Wochenende so groß ist, dass auch den Israelis bewusst ist, dass es nicht anders geht. Man kann nicht länger warten, wenn man die Hamas zerstören will. Je länger man wartet, desto größer wird der internationale Druck, diese Bodenoffensive abzublasen. Und das können sich sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft nicht leisten.
150 Geiseln auf 9 Millionen Einwohner bedeutet aber auch: Vielleicht um zwei Ecken - kennt jeder jemanden, der um das Leben einer dieser Geiseln bangt.
Aber 900 Tote auf 9 Millionen bedeuten: Um zwei Ecken kennt jeder drei der Getöteten. Das ist das israelische 9/11. Das löst ganz andere Verhaltensmuster und Reaktionen aus als jeder andere terroristische Anschlag.
Und wenn Sie sagen, international würde man Israel von der Bodenoffensive abbringen wollen, dann könnte es sich Israel nicht leisten, anders zu reagieren als so?
Vor allen Dingen aus innenpolitischer Sicht kann sich Israel nichts anderes leisten. Bei einem Anschlag, der aus Perspektive des Landes größer war als 9/11: Was soll Israel anderes tun als den Versuch zu unternehmen, die Hamas komplett zu zerstören?
Mit Carlo Masala sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de