Debattenshow im Kiewer Stadion "Herr Poroschenko, ich bin Ihr Urteil"
20.04.2019, 12:13 UhrDie ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Selenskyj und Poroschenko tragen vor der entscheidenden Stichwahl ein Fernsehduell im Kiewer Olympiastadion aus. Es wird eine beispiellose politische Show, die trotzdem niemanden schlauer macht.
Drei Stunden vor dem großen Showdown, dem Fernsehduell der ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Wolodymyr Selenskyj und Petro Poroschenko im Kiewer Olympijskyj-Stadion, in dem vergangenes Jahr das Finale der Champions League stattfand, herrscht im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt bereits Ausnahmezustand. Denn: Eine politische Debatte im Fußballstadion mit Unterstützern aus beiden Lagern - das hat man sogar in der Ukraine, die für Überraschungen immer gut ist, vorher nicht gesehen.
Die große Polizeipräsenz - das Innenministerium hat 10.000 Polizisten zur Bewachung geschickt - ist bereits einige Kilometer vor dem Stadion nicht zu übersehen. Und die Atmosphäre? Äußerst elektrisiert. "Die Kandidaten sind beide Arschlöcher, meine Stimme geht an niemandem", erklärt etwa ein älterer Mann seinem Freund am Zeitungskiosk. Dieser stimmt zwar zu, kann aber mit dem Amtsinhaber Poroschenko offenbar nichts mehr anfangen: "Ich kann Poroschenko nicht mehr ertragen." Eines von vielen Gesprächen, die am Rande der spektakulärsten politischen Show der letzten Jahre geführt werden.
Vor allem im Wahlteam von Poroschenko, der 2014 bereits im ersten Wahlgang ins Amt gewählt wurde, hat man große Hoffnungen auf das Rededuell gesetzt. Der amtierende Präsident bekam lediglich 15,95 Prozent der Wählerstimmen in der ersten Runde - und gilt vor der Stichwahl am Sonntag als beinahe chancenlos. Selenskyj, der Komiker und Schauspieler ohne jegliche politische Erfahrung, bekommt laut Umfragen die meisten Stimmen der Kandidaten, die nach dem ersten Wahlgang ausgeschieden sind. Doch der 53-jährige Poroschenko gilt nicht umsonst als einer der besten politischen Redner des Landes.
Showprofi bei der Arbeit
Und Selenskyj? Der Frontmann der beliebten Satire-Sendung "Das Abendquartal" sowie Präsidentendarsteller in der Comedy-Serie "Diener des Volkes", ist zweifellos der Meister des Showgeschäfts. Seine bisherigen öffentlichen Auftritte haben jedoch offengelegt: So viel Ahnung von Politik hat Selenskyj, dem Verbindungen zum umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomojskyj nahegelegt werden, nicht.
Daher ist es sicher kein Zufall, dass sein Wahlstab ihn aus der Öffentlichkeit herausgehalten hat. Erst am Donnerstag wurde das einzige Interview Selenskyjs zwischen den Wahlgängen veröffentlicht. Er sprach mit einem Journalisten, der ihn am Wahlabend im Tischtennis besiegte. Die beiden hatten schlicht um ein Exklusiv-Interview gewettet. Und ebenfalls erst am Donnerstag hat Selenskyj sein Kompetenzteam im 1+1, dem Sender Kolomojskyjs, der zu den Erzfeinden Poroschenkos gehört, vorgestellt. Sonst kommunizierte er fast ausschließlich über soziale Medien - leichtes Spiel für den Showprofi. Und weil Poroschenko dieses Rededuell viel mehr als Selenskyj brauchte, konnte der sich mit seinem Debattenformat durchsetzen. Nämlich: 19. April, 19 Uhr, Olympijskyj, Zuschauer anwesend.
22.000 Menschen sind der Polizei zufolge ins Stadion gekommen, um sich die Politshow anzugucken. Die Zuschauerzahl blieb letztlich etwas unter den Erwartungen: Alle kostenlosen Karten waren am Vorabend bereits weg, das Innenministerium erwartete sogar bis zu 60.000 Besucher, wobei klar war, dass so viele doch nicht kommen werden. Es wurden zwei Bühnen eingerichtet, eine für Poroschenko, eine für Selenskyj. Die Fanzones der beiden Kandidaten wurden durch Sicherheitspersonal und Polizei getrennt. Die Poroschenko-Zone sah viel voller aus als die von Selenskyj, was allerdings auch damit zusammenhängt, dass das Präsidententeam die Anreise seiner Anhänger aus allen Regionen des Landes zentral organisiert hat. Ob wirklich alle freiwillig nach Kiew gefahren sind, darf bezweifelt werden. Allerdings: Zwar hat Selenskyj auch in der Hauptstadt knapp gewonnen, die Kiewer Zivilgesellschaft ist jedoch sehr aktiv - und sie steht mehrheitlich auf der Seite von Poroschenko.
Smart und emotional
Und so herrscht im Olympijskyj echte Begeisterung, als der amtierende Präsident sich zur Bühne von Selenskyj bewegt, damit die beiden Kandidaten doch auf einer Bühne stehen. Ein smarter Move, den der Herausforderer jedoch gut parierte: "Begrüßen wir mal die Menschen, die mit Bussen hergekommen sind" - eine Anspielung auf die Anreise der Poroschenko-Fans. Die Reaktion des Publikums: laute Buhrufe, immer wieder, wenn Selenskyj das Wort ergreift. Auch in seiner Eröffnungsrede macht der Wahlfavorit einen guten Eindruck. Er selbst habe vor fünf Jahren Poroschenko gewählt, das habe sich jedoch als grober Fehler herausgestellt. Doch eigentlich ist der 53-jährige Amtsinhaber rhetorisch stärker. Er vergleicht Selenskyj mit einem unerfahrenen Chirurgen, der eine wichtige Operation durchführen muss. Und natürlich spricht er von der ständigen Gefahr aus Russland, mit der nur ein erfahrener Politiker als Oberbefehlshaber der Armee richtig umgehen kann.
Irgendwie kann sich Poroschenko trotz der lauten Anhänger nicht wirklich durchsetzen, obwohl Selenskyj seine Fragezeit dafür vergeudet, Wählerfragen von einem Blatt Papier abzulesen. In einer dieser Fragen kommt sogar das Wort "Rebellen" in Bezug auf prorussische Separatisten im umkämpften Donbass vor - etwas, was bei der ukrainischen Zivilgesellschaft überhaupt nicht gut ankommt. Doch der emotionale Poroschenko, der meist schreit, schafft es einfach nicht, Selenskyj verbal zu vernichten. Trotz seines gebrochenen Ukrainisch - Selenskyj ist russischsprachig - wirkt er sogar lockerer. Und produziert in seiner Redezeit viel mehr Schlagzeilen. Die Wichtigste: "Ich bin nicht Ihr Gegner. Ich bin Ihr Urteil." Eine vernichtende Kritik an der Amtszeit Poroschenkos, obwohl Selenskyj auch dessen Errungenschaften zugibt.
Poroschenko hätte im Olympijskyj-Stadion einen richtigen Game Changer gebraucht, um die Präsidentschaftswahl zu drehen. Doch den lieferte er nicht, obwohl seine Anhänger am Ausgang aus der Arena meist begeistert sind. "Poroschenko hat klar gewonnen. Jede Frage an Selenskyj war vernichtend, er hat aus ihm ein Kotelett gemacht." Doch so eindeutig war es nicht. Was von der großen Show, die in der Tat oft mehr an ein Fußballspiel als an eine politische Debatte erinnerte, bleibt, sind vor allem zwei Tatsachen. Zum einen kann Poroschenko nur noch auf ein Wunder hoffen. Und zum anderen: Das Fernsehstudio ist doch ein viel besserer Ort für eine inhaltliche Diskussion. Denn schlauer ist man nach diesem Duell definitiv nicht.
Quelle: ntv.de