Matthias Platzeck über Wein und Politik "Ich war bei uns die rote Socke"
02.06.2012, 10:53 Uhr
Matthias Platzeck ist seit 2002 Ministerpräsident von Brandenburg.
(Foto: picture alliance / dpa)
Er sei "mal begeisterter Sozialist" gewesen, sagt Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck im Interview mit n-tv.de. Und er spricht über preußische Disziplin, das "putzige Gefühl" nach seinem ersten Gang über die Glienicker Brücke und woran er auf seiner Hochzeit erkannte, welcher Gast aus dem Osten und welcher aus dem Westen kam.
Manfred Bleskin: Gisela May und Alfred Müller beschreiben in ihrem Chanson "Mit der Uhr in der Hand" wie Menschen, von Terminen getrieben, durchs Leben hetzen. Mein Gespräch mit Ihnen beginnt jetzt exakt um 16.00 Uhr. Danach steht der nächste Termin an. Und immer so weiter. Wie stehen Sie das durch?
Matthias Platzeck: Dass unser Treffen genau um vier beginnt, hat etwas damit zu tun, dass wir hier im Kernland Preußens sind ... Aber im Ernst: Ich versuche immer verlässlich und pünktlich zu sein. Aber Ihre Frage zielt ja auf meinen Tagesablauf insgesamt. Also, Ich halte mich schon für einen disziplinierten Menschen, bin es eigentlich auch immer schon gewesen. Und nach 22 Jahren in politischer Verantwortung kenne ich es, ehrlich gesagt, gar nicht mehr anders. Man kann sich daran gewöhnen. Manchmal fluche ich natürlich auch. Das gehört dazu, aber ich mache meine Arbeit sehr gern. Zudem ist sie auch eine Art Universität. Man lernt jeden Tag in den unterschiedlichsten Bereichen etwas hinzu. Nach diesen mehr als zwei Jahrzehnten ist es ein schönes Gefühl, wenn man sagen kann "Mensch, da haben wir was richtig Gutes auf den Weg gebracht!" Ich liebe schließlich dieses Land, bin ein leidenschaftlicher Brandenburger. Neulich wurde die erste Sendung von "Brandenburg Aktuell" nochmal gezeigt. Das ist seit 20 Jahren unser aktuelles TV-Regionalmagazin, das feierte Geburtstag. Als ich das sah, kam es mir vor, als wäre es damals ein anderes Land gewesen. Und bei solchen Bildern wächst das Gefühl: Wir haben ein gutes Fundament gelegt. Auf der anderen Seite hat man schon manchmal ein schlechtes Gewissen. Die vier Töchter werden immer größer, der erste Enkel ist da. Wenn man da mal Zeit hat für's Beisammensein, erwischt man sich bei dem Gedanken, eigentlich mehr Zeit dafür haben zu müssen - und dann klappt es wie immer nicht. Gott sei dank, meine Frau und auch meine Töchter sind sehr nachsichtig. Sie machen mir keine Vorwürfe.
Ist die Familie der ruhende Pol, wenn es bei Ihnen mal Oberkante Unterlippe steht?
Ja. Absolut. Wir haben seit Jahrzehnten feste Rituale ...
Welche?
Zu Pfingsten fahren wir beispielsweise alle zusammen weg. Die Töchter sind zwar schon zwischen 25 und 35 - aber der Brauch hat sich all die Jahre über gehalten. Wir mieten uns irgendwo ein Haus, sitzen abends zusammen und schwatzen bis der neue Tag anbricht. Das ist einfach schön. Das gibt mir eine Freude, die eben nicht aus der Arbeit kommen kann - obwohl ich die nun wirklich gern mache.
Ostern und Weihnachten dagegen kommen alle zu uns. Wir mussten jetzt im Esszimmer eine Wand versetzen lassen, denn es sind immerhin 22 Leute. Auch Schwestern, Töchter, Neffen, Nichten und manchmal schon deren Liebste. Da kommt schon so einiges zusammen. Der Ablauf ist stets der gleiche. Die Kinder wollen nichts ändern, nicht mal etwas an der Essenabfolge.

Nach der Vereidigung als Ministerpräsident 2002: Platzeck mit seinen Töchtern.
(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)
Was gibt's denn so bei Ihnen?
Heiligabend kann bei uns nichts anbrennen. Da gibt es immer Würstchen mit Kartoffelsalat. Am ersten Feiertag steht dann Gans mit Klößen und Rotkraut auf dem Speiseplan. Und am Nachmittag gehen wir, seit vielen, vielen Jahren schon, gemeinsam ins Kino. Die Mädels suchen den Film aus.
Ein Ministerpräsident hat Macht. Im DDR-Staatsbürgerkundeunterricht haben Sie in Klasse 7 gelernt: "Der Staat ist das Machtmittel der jeweils herrschenden Klasse." Jetzt sind Sie der Staat in Brandenburg. Haben Sie Macht?
(Lacht.) Ja und nein. Wenn man etwas erreichen will, dann braucht es dazu auch die entsprechenden Möglichkeiten. Das hängt mit Macht zusammen. Der Unterschied zu dem, was wir in der Schule gelernt haben, ist erstens, dass es sich um demokratisch verliehene Macht handelt, und es zweitens um eine zeitlich begrenzte. Macht ist also endlich. Das ist auch gut so. Denn man hat dies bei der Ausgestaltung dieser Möglichkeiten immer im Hinterkopf. Man sagt sich, mit dem, was du hier machst, musst du wieder vor die Wählerinnen und Wähler treten. Man will deshalb auch alles gut machen. Kurzum: Ich habe mich der Wahl gestellt, weil ich Gestaltungsmöglichkeiten haben wollte und nehme sie sehr gern an. Ich müsste mich aber genauso damit abfinden, wenn eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler sagt, nö, das war nicht gut genug, das hat uns gar nicht gepasst, zieh Leine. Aber das ist der SPD bislang nicht passiert. Ich verhehle dabei auch nicht, dass es mich sehr freut, dass wir hier in Brandenburg als Sozialdemokratie - ich bin ja im "Nebenberuf" seit zwölf Jahren auch noch Landesvorsitzender - seit 22 Jahren die Hauptverantwortung tragen dürfen. Da merk' ich schon, dass da so ein Stück Grundvertrauen entstanden ist. Regine Hildebrandt oder Manfred Stolpe haben daran großen Anteil. Aber dieses Vertrauen muss man immer wieder aufs Neue bestätigen. Deshalb ist es wichtig, dass einem klar wird, dass man mit Ämtern wie denen eines Ministers oder Ministerpräsidenten auch freiwillig die Verpflichtung eingeht, ein Stück weit Vorbild zu sein. Nicht alles, was bei anderen goutiert oder nachgesehen wird, ist auch dir möglich. Ich bin auch so gestrickt - manche nennen das altmodisch.
Fühlen Sie sich nicht manchmal machtlos, wenn Betriebe schließen oder Projekte platzen, ohne dass Sie etwas dagegen unternehmen können? Es gibt da ja so einiges in Brandenburg, der Fall First Solar und die Chipfabrik Dubai Silicon Oase in Frankfurt (Oder), die Luftschiffwerft Cargolifter in Briesen-Brand, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Sagt man sich da nicht "du hast zwar politische Macht, aber bedrängten Menschen kannst du doch nicht helfen"?
Zunächst habe ich nach dieser langen Zeit bemerkt, dass eine gern kolportierte These nicht stimmt: Es wächst einem kein dickes Fell, an dem alles abperlt, wenn man lange genug dabei ist. Was allerdings stimmt ist, dass dieser oder jener Presseartikel, der einen vor - sagen wir - fünfzehn Jahren noch aufgeregt hat, heute nicht mehr ganz so zu einem durchdringt. Es wäre auch verrückt, wenn es anders wäre. Aber solche Fälle, wie Sie sie gerade geschildert haben, wenn Menschen die Arbeit genommen wird, gehen mir genauso nahe wie vor fünfzehn oder mehr Jahren. Aber sie sind seltener. Anfang der 90er Jahre war das anders, da gab es ständig solche Hiobsbotschaften. Und es sind die schlimmsten Momente, wenn man wie damals in Premnitz vor den Beschäftigten der "Märkischen Faser" steht, die auf die Straße gesetzt wurden und ihnen sagen muss, dass hier nichts mehr geht. Dann fühlt man sich auch ein Stück machtlos. Man würde gern helfen, kann es aber nicht. Hinzu kommt, dass in den Neunzigern vieles mit einer großen Portion genereller Hoffnungslosigkeit verbunden war. Manchmal konnte man nicht anders, als den Menschen sagen, wir haben hier nichts im Lande. Wer Arbeit will, muss ihr nachziehen. Das ist heute anders. Mittlerweile können wir jedem jungen Menschen versprechen, wenn du dich in der Schule auf den Hosenboden setzt und gut lernst, dann findest du in unserem Land deine Perspektive. Und ich hoffe, dass wir auch den gut qualifizierten Beschäftigten von First Solar eine Alternative bieten können, vielleicht nicht nur in Frankfurt und Umgebung. Vielleicht nicht gleich in den nächsten ein, zwei Wochen oder Monaten.
Sie haben ein Buch mit dem Titel "Zukunft braucht Herkunft" geschrieben. Ist das eine Umschreibung für eine an die alten Bundesländer gerichtete Botschaft "Ihr könnt uns unsere Herkunft nicht schlechtmachen, wenn wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten wollen?"
Vorab: Ich habe immer gesagt, ich schreibe erst, wenn ich 80 bin. Mein Sendungsbedürfnis ist nicht so exorbitant. Ich schlafe nicht unruhig, weil ich im Deutschlandfunk am nächsten Morgen mitteilen will, was ich geträumt habe.
Bei mir ist das ein Ritual. Ich höre wochentags jeden Morgen das Interview um zehn nach acht. Ich würd' mich freuen, Sie auch einmal wieder zu hören.

Im April mit Georg Friedrich Prinz von Preußen (r.) in der Ausstellung "Friederisiko" in Potsdam.
(Foto: picture alliance / dpa)
(Lacht.) Sie bieten uns immer den Termin um 6.40 Uhr an ... Aber zurück zum Buch. Ich hab' das dann doch gemacht. Mich hat etwas gestört: Am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit hatte ich die Hoffnung, dass endlich einmal die Leistungen der Menschen im Osten gewürdigt werden. Was ist da nicht an Umbrüchen, die oft auch Einbrüche waren, bewältigt worden. 80 Prozent der Leute haben neue Berufe gelernt. Manche mussten ihr Herz zweimal in die Hände nehmen und viele Unternehmen dreimal Anlauf, bis es mit dem rechten Start klappte. Ich dachte, diese Lebensleistungen würden das Hauptthema zu Beginn des dritten Jahrzehnts sein. Doch dann kam diese Welle, Sie werden sich erinnern, "Unrechtsstaat DDR". Das wurde dann genüsslich in unseren westdeutsch geprägten Medien von früh bis abends diskutiert. Da habe ich gesagt: "Kinder, das kann doch nicht wahr sein!" Deshalb habe ich versucht, auf ein paar Seiten darzulegen, warum die Frage Unrechtsstaat längst entschieden ist und anderes heute für die Menschen wichtig ist.
Um es auf den Punkt zu bringen: War die DDR ein Unrechtsstaat?
Diese Frage haben die Bürger der DDR im Herbst 1989 beantwortet. Sie sind, größtenteils unter Gefahren, auf die Straße gegangen, haben sich aus eigener Kraft eines Landes entledigt, mit dem sie nicht zufrieden waren, wo sie nicht mehr so weiter leben wollten. Weil es eben kein offenes, freies, der Zukunft zugewandtes Land und was die gesellschaftlichen Verhältnisse anbelangt, kein Rechtsstaat war. Aber mich hat gestört, dass das gesamte Land und das gesamte Leben in diesem Land auf diesen einen Begriff reduziert wurden. Das musste und muss schiefgehen. Wenn im 20. Jahr der Deutschen Einheit 60 bis 70 Prozent der Ostdeutschen sagen, wir sind nicht in der Bundesrepublik angekommen, wir fühlen uns nicht ebenbürtig, wir fühlen uns nicht auf- und nicht angenommen, dann muss man das wahrlich ernst nehmen. Ich sage: immer nur Unrechtsstaat, immer nur Staatssicherheit. Das wird dem Leben in der DDR nicht gerecht, ist keine Anerkennung von Lebensleistungen. Dabei ist es doch so: Ein Arbeiter im Osten hat teilweise unter schwierigeren Bedingungen am Hochofen gestanden. Ein Ingenieur im Osten hat genauso intelligente Ideen gehabt wie einer im Westen, aber sie waren schwerer durchsetzbar. Ein Arzt hat genauso hart arbeiten müssen, aber unter vielleicht schwierigeren Bedingungen. Das alles bleibt außen vor, wenn man gelebtes Leben auf wenige Begriffe reduziert. Die im Osten fühlen sich nicht geachtet, die im Westen bleiben unwissend. Mit dem Buch wollte ich etwas dagegensetzen und insbesondere einen Beitrag dazu leisten, damit sich auch die Menschen im Osten ob ihrer Geschichte mit Stolz auf die Brust klopfen können. Dazu gibt es im Osten ebensoviel Anlass wie in Bayern. Bei denen wird das goutiert. Oder bei den Baden-Württembergern, die sagen "Wir können alles außer Hochdeutsch". Dabei bleibt es: Erst, wenn man ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, wenn man sich seines Weges, seines Daseins, seiner Biografie bewusst ist, dann kann man in dem größeren Ganzen ankommen. Wenn nicht, dann ist man dort nicht zuhause.
Sie sagen jetzt "auf- und angenommen". Sie haben aber auch einmal das Wort "Anschluss, angeschlossen" gebraucht. Ich will jetzt nicht diese unsinnige Behauptung aufgreifen, Sie hätten einen Nazibegriff verwendet. Ich will vielmehr auf den reinen Sachverhalt hinaus. Die DDR trat dem Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 bei. Es wäre aber auch eine Vereinigung auf der Basis von Artikel 146 möglich gewesen, was dann die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue, gesamtdeutsche Verfassung bedeutet hätte.
Aus jetziger Sicht ist das Schnee von gestern. Das können wir nicht mehr ändern. Es lohnt auch keine Debatte mehr. Sie kennen meine damalige Haltung. Aber: Nach vorn gerichtet, sollten wir die Dinge, die jetzt falsch laufen, ändern. Als erstes muss gelten: Aufarbeitung der DDR-Geschichte muss das ganze Leben betrachten und darf sich nicht nur auf zwei, drei Ausschnitte konzentrieren. Der Blick auf die DDR wird ja von manchen am liebsten auf die Frage reduziert "Warst du dafür oder dagegen?" Das spiegelt nicht im Mindesten das ganze Leben wider.
Waren Sie dafür oder dagegen?
Ich war mal begeisterter Sozialist, habe meine Eltern ge- und entnervt. Mein Vater war Arzt in einem katholischen Krankenhaus, meine Mutter Pfarrerstochter. Beide sind auch nicht zur Jugendweihe gekommen, an der ich unbedingt teilnehmen wollte. Salopp gesagt, war ich in dieser Familie die rote Socke. Es war aber auch ein Stück Reaktion auf das sehr konservative Elternhaus, mit Tischgebet und allem, was so dazugehört. Nebenbei: Heute bin ich dennoch dankbar, denn auch diesen Einfluss habe ich gebraucht. Zurück zur Geschichte: Ich bin dann Stück für Stück, und spätestens mit dem Einmarsch der Russen in Afghanistan 1979, vom eigenen Glauben abgefallen. Der Evolutionsprozess hatte mit der Ausbürgerung Biermanns 1976 begonnen. Nicht etwa, weil ich ein großer Fan von Biermann war, sondern weil ich mir sagte, Kinder, ein Land darf nicht so schwach sein, dass es so etwas nicht aushält. Ab Mitte der 80er Jahre setzte dann in meinem Freundeskreis ein, was wahrscheinlich in vielen Familien dazumal passierte: Wir waren jung, wir hatten Kinder, mehr als eines. Wir saßen abends gemeinsam am Tisch und tranken schlechten Rotwein. Dass der schlecht war, wussten wir damals allerdings noch nicht ...
Es war bulgarischer "Gamza", stimmt's?
Genau. Und dann hat man sich gefragt, was werden wir eigentlich einmal unseren Kindern sagen, über die Zeit damals. Und was antworten wir auf die Fragen, wie wir uns verhalten haben? Diese Konstellation politisierte. Die Antworten trennten. Der Freundeskreis teilte sich. Das tat mir sehr weh. Einige sagten, sie sähen hier keine Perspektive mehr, die haben dann Ausreiseanträge gestellt, Botschaften besetzt. Ein anderer Teil, zu dem ich gehörte, sagte, nee, wir bleiben hier. Aber wir wollen auch etwas machen, wollen nicht mehr zugucken, wie es in unserem Land bergab geht. Ich verhehle bis heute nicht: Die DDR war mein Land! Ich hatte ja auch kein anderes, kannte kein anderes. Dort bin ich groß geworden, dort habe ich 35 Jahre gelebt. 1987/88 haben wir dann erst die Interessengemeinschaft Pfingstberg, dann die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz gegründet, und, und, und. Mit dem Ergebnis, dass ich 1988 von der Staatssicherheit als "feindlich-negatives Element" klassifiziert wurde. Das habe ich aber erst später erfahren. Die Klassifizierung sehe ich bis heute aber nicht ein, weil wir ursprünglich etwas besser und nicht kaputtmachen wollten. Aber gut, es war, wie es war.

Platzeck und seine Frau Jeanette Jesorka nach ihrer Hochzeit im Juni 2008 in der Dorfkirche von Ringenwalde in der Uckermark.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Sie haben die Religion erwähnt und den entsprechenden Einfluss der Familie. Bedeutet Ihnen Religion heute noch etwas?
Also, zunächst bin ich mal aus der Kirche ausgetreten, zu DDR-Zeiten. Das war auch ein Reflex auf die Eltern und auf einen der Großväter - der war nämlich Pfarrer. Der sagte immer, wenn du einmal in Jerusalem warst, lässt dich das nicht mehr los. Das konnte ich aber damals noch nicht einschätzen und deshalb blieben seine Worte ohne Wirkung. Als ich 40 Jahre später zum ersten Mal in Jerusalem war, musste ich an ihn denken. Da habe ich festgestellt, er hatte Recht. Meine tatsächliche Rückkehr in die Kirche dauerte länger und spielt in Potsdam. Ich habe dort einen guten Freund, der war viele Jahre Pfarrer, der war unser Revolutionspfarrer in der Friedrichskirche in Potsdam-Babelsberg. Da war die Bürgerbewegung zuhause, da haben die ersten Kundgebungen stattgefunden. Er war auch der Mutigste von uns, hat viele Jahre mit mir unter dem Obstbaum in seinem Garten gesessen und diskutiert. Erst über die DDR, dann auch über Glaubensfragen. Als Umweltminister habe ich dann Stück für Stück begriffen, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, so, wie wir mit der Welt umgehen. An irgendeinem Punkt, vor zehn Jahren ungefähr, hat er mir klipp und klar gesagt, ich wäre längst wieder Christ. "Aber nun zahl mal Kirchensteuer, wir brauchen Geld", sagte er. (Lacht laut.) Bei mir ist das ja eine ganz erhebliche Summe, und da bin ich wieder eingetreten. Ich trage den Glauben aber nicht nach außen. Glauben und Nichtglauben sind für mich völlige Privatsache. Ich merke aber, dass mir in ganz bestimmten Situationen, ohne es genau beschreiben zu können, die Religion mehr Rückhalt und auch Motivation gibt. Das tut gut.
Hat das mit dem Alter zu tun? Man sagt, je älter man wird, desto näher kommt man Gott.
Das habe ich mich auch manchmal gefragt. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es so. Ich gehe ja nun auf die 60 zu ... (lacht.) Aber ich glaube vielmehr, meine acht spannenden Jahre als Umweltminister haben mich auch beeinflusst. Man wird demütiger, wenn man in Zusammenhänge eintaucht, die seit Jahrmillionen unser Leben ausmachen. Wir denken, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gegessen. Nach dem Motto: Zwei, drei Eingriffe in die Natur, und alles wird besser. Dann stellt man fest: Nichts ist besser geworden. Diese Erkenntnisse verändern nachhaltig. Und wenn die Kinder dann auch noch größer geworden sind oder man sogar schon Enkel hat, denkt man wieder anders über die Welt nach als mit 30, als man leichtfüßig durch die Welt ging.
Sie haben Jerusalem erwähnt. Günter Grass, der ja Ihrer SPD sehr nahesteht, hat mit seinem Israel-Iran-Gedicht, oder wie man das auch immer nennen will, eine heftige Diskussion ausgelöst. Wie positionieren Sie sich da? Sie sagen ja, es käme darauf an, das eigentliche Problem in Nahost, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, wieder in den Mittelpunkt zu rücken, damit man nicht nur auf den Iran schaut.
Vorab: Der Nahe Osten ist eine der faszinierendsten Regionen der Welt. Nicht nur, weil sich dort die Geschichte dreier Religionen bündelt. Auch nicht nur, weil ich dort unheimlich viele interessante, spannende Menschen unterschiedlicher Herkunft kennenlernen durfte, mit denen ich zum Teil heute zusammenarbeite. Sondern auch, weil sich dort alle Konflikte dieser Welt auf kleinstem Raum spiegeln. Man spürt, wie Geschichte fortwirkt, was passiert, wenn Religion politisch wird, und wie sich globale Interessen vor Ort auswirken. Nun zu Günter Grass: Ich bin über seine Formulierungen - freundlich formuliert - nicht glücklich gewesen. Und das, obwohl ich durchaus kritisch dem Agieren der israelischen Regierung gegenüber stehe, vor allem wegen der Siedlungspolitik. Mich treibt auch um, wie die jetzige Regierung mit der Frage der Zwei-Staaten-Lösung umgeht. Aber: Wenn man mit Menschen in Israel spricht, in Familien ist, dann merkt man, dass eine Dauerangst herrscht. Warum? Das jüdische Volk hat einmal die Bedrohung durch einen vermeintlich Irren nicht ernst genommen. Das Ergebnis war der Holocaust. Aus dem daraus extrem verinnerlichten Überlebensdrang hat sich das jüdische Volk geschworen: Das wird uns nicht noch einmal passieren. Nun kommt Günter Grass, sagt, Irans Präsident Ahmadinedschad ist nur ein Verrückter. Mag sein. Die westliche Welt muss aber begreifen, dass Juden dies gerade wegen ihrer Geschichte so nicht sehen können. Ich wünsche mir, dass die internationale Gemeinschaft dieses Gefühl ernst nimmt. Zugleich muss sie alles unternehmen, damit die vom Iran ausgehende atomare Bedrohung nicht noch größer wird. Punkt. Zugleich muss der Iran die gleichen Chancen haben wie Polen, wenn es um friedliche Nutzung der Atomkraft zur Energieerzeugung geht. Und das sage ich in vollem Bewusstsein, dass ich die Atomenergieerzeugung gleichwohl nicht für ein zukunftsfähiges Modell halte. Bei friedlichen Lösungen heißt es überzeugen, nicht dekretieren. Ganz zum Schluss sage ich noch mal zur Causa Grass: Ich hätte mir von Israel einen souveräneren Umgang mit dem Gedicht eines Nobelpreisträgers gewünscht, bei aller beschriebenen Kraftanstrengung, die das für Israelis erfordert. Ich halte Einreiseverbote oder Ausbürgerungen - wir hatten ja schon über Biermann gesprochen - für die falsche Antwort auf ein nicht richtiges Gedicht.
Sie waren einmal Vorsitzender der SPD, der ältesten Partei Deutschlands, gegründet von Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Wie haben Sie sich da gefühlt? Das muss, ich sag's mal so, berauschend gewesen sein.

Auf dem Bundesparteitag der SPD in Karlsruhe wird Platzeck auch von seinem Vorgänger Franz Müntefering (r.) beklatscht.
(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)
Berauschend ist vielleicht der nicht ganz falsche Begriff für einen kurzzeitigen Zustand, wenn man in einer Wahl sich und seine Ideen hat durchsetzen können. Im konkreten Fall war es etwas spezieller. Es gab nur ein paar Tage Vorbereitungszeit. Der SPD-Vorsitz kam ungeplant. Ich konnte mich seelisch gar nicht darauf einstellen. Um das zu begreifen, muss man sich an die Situation im Herbst 2004 erinnern. Ich wollte sehr gern, wie mit dem damaligen Vorsitzenden Franz Müntefering abgesprochen, stellvertretender Parteivorsitzender werden, wollte mich um die SPD im Osten kümmern, wo ich mich ja ein bisschen auskenne. An mehr habe ich nicht gedacht. An mehr war überhaupt nicht zu denken. Meine SPD in Brandenburg hatte gerade eine sehr schwierige Wahl gewonnen. Unser Land stand finanziell mit dem Rücken zur Wand, die Einführung der Hartz-Gesetze hatte die Gesellschaft gespalten und ich hatte den Menschen auf allen Marktplätzen versprochen: Ich bin hier, ich bleibe hier, ich werde meinen Beitrag leisten, damit wir aus dieser schwierigen Situation herauskommen. Fahnenflucht war gar nicht denkbar. Niemand hatte aber damit gerechnet, dass Franz Müntefering in dieser Situation binnen weniger Stunden zurücktritt. Und da guckten plötzlich alle mich an. Da blieb nur die Wahl: kneifen oder Doppelbelastung angehen, weil wir uns in dieser ganz besonderen Situation keine langen Interimszeiten leisten konnten. Wir waren ja mit der Union in Koalitionsverhandlungen, drei Landtagswahlen standen vor der Tür, da wäre jedes Anzeichen von Schwäche nach hinten losgegangen. Also, hab' ich gesagt, ich mach' das. Das Gefühl an dem Wahltag in Karlsruhe war dann unbeschreiblich. Das kann man nicht wirklich schildern. Fast 100 Prozent Zustimmung nach einer 90-minütigen Rede. Ich hab' für einen Moment gedacht, so muss es Menschen gehen, die bei Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewinnen. Es war ein sehr, sehr schönes Gefühl. Gleichwohl hat mich nach dem kurzen Moment des Innehaltens die Frage bewegt, ob ich den Hoffnungen, die mir in den Rucksack gepackt wurden, auch gerecht werden kann. Aber in diesem Moment hat mich erstmal ein Stück persönliche Geschichte eingeholt. Einer meiner Urgroßväter hat die SPD im thüringischen Nordhausen mitbegründet, und sein Sohn, also mein zweiter Großvater, war dann in schwierigster Zeit einer der Partei-Matadoren dort. Auch nach 1945. Da schloss sich also auch in familiärer Hinsicht ein Kreis. Und ich gestehe, während der Wahl habe ich mal kurz gedacht, wenn dieser Großvater jetzt hier sein könnte, würde er's richtig genießen, seinen schwierigen Weg anerkannt sehen. Aber gut. Es kam dann ganz schnell alles anders. Nach ein paar Monaten musste Schluss sein. Das hat mich lange, lange geschmerzt. Gerade weil ich ein Typ bin, der im Sport sozialisiert wurde, und da sagt man sich, wenn du antrittst, willst du es auch schaffen. Hat nicht sollen sein. Heute sage ich: Ich habe ein paar Startfehler gemacht. So haben wir meine letzte fest eingeplante Stunde, die morgendliche Laufstunde, dem Zeitplan geopfert. Das war bescheuert. Das hat mir mein Körper auch übelgenommen.
Sie haben von Olympiasiegern gesprochen, die ihre Goldmedaillen in der Hand halten. Stimmt es, dass man als SPD-Vorsitzender die goldene Taschenuhr von August Bebel in der Hand hält?
Ja, das habe ich. Und ich habe bis heute eine Nachbildung, die bei mir zuhause einen Ehrenplatz hat.
Gehen wir noch einmal an den Anfang unseres Gesprächs zurück. Brandenburg war einmal, Sie sagten es, Kernland Preußens. Franz Mehring, auch Sozialdemokrat, geht in seiner Geschichte Preußens recht kritisch damit um. Was bedeutet Preußen Ihnen heute?
Erstens sehe ich die Sache relativ entspannt. Ich bin nun mal in Potsdam groß geworden und da ist ja jede Ecke mit Preußen verbunden. Unsere Eltern haben meine Schwestern und mich in alle möglichen Schlösser und Ausstellungen, die es ja auch zu DDR-Zeiten gab, geschleift. Da war man als Kind nicht immer froh darüber, aber es prägte trotzdem. Ich habe die Ruinen des Stadtschlosses noch gesehen, wir haben daneben gespielt. Sieben, acht Jahre alt war ich, als das Schloss abgerissen wurde. Auch den Stumpf der Garnisonkirche habe ich noch erlebt und die Sprengung des Turms. Zweitens stört mich schon seit langem, dass es von Preußen bei vielen nur ein klischeehaftes Bild gibt: Stechschritt, Pickelhaube, Uniform. Ja, das war auch da. Und dieser militaristische Zug sollte nicht unterschätzt werden. Den sehe ich kritisch. Aber nehmen wir die Kriege, die Friedrich II., dessen 300. Geburtstag wir gerade feiern, geführt hat. Das war damals normales Mittel der Politik. Wie haben Maria Theresia, wie die französischen Könige, die russischen Zaren Politik gemacht? Auch immer mit Kriegen. Die militärische Auseinandersetzung ist nicht das Alleinstellungsmerkmal der preußischen Könige. Nehmen Sie nur Napoleon. Dessen Nachfahren stehen ihrer kriegerischen Vergangenheit heute noch viel unkritischer gegenüber als wir. Dort spricht man eher über die Lebensart, über Mode, Schick und Kultur. Deshalb wünsche ich mir, dass auch andere Facetten, die zu diesem ganz einzigartigen Gebilde Preußen gehören, gewürdigt werden. Wie zum Beispiel die sprichwörtliche Toleranz, die zugegebenermaßen sehr pragmatisch war. Man war dann tolerant und machte die Tore auf, wenn man Bedarf an Fachkräften hatte. Und Juden fielen nie unter ein Toleranzedikt. Aber: Ich wohne seit Jahrzehnten im Weberviertel von Potsdam-Babelsberg, wo sich zuerst Menschen ansiedelten, die im Ausland religiös verfolgt, aber vom preußischen König gerufen wurden, weil sie die besseren Tuche weben konnten und damit die Entwicklung voranbrachten. Und vergessen wir nicht den Einfluss Friedrichs auf das Bildungswesen, die Urbarmachung von Land ...
... wie im Oderbruch, das Sie dann als "Deichgraf" während des Jahrhunderthochwassers 1997 gerettet haben ...
Oder nehmen Sie unser Rechtswesen, das zu einem Großteil auf dem fußt, was unter Friedrich eingeführt wurde. Es gab schon vor zweieinhalb Jahrhunderten zum ersten Mal eine verlässliche Rechtsprechung in diesem Landstrich. Man ist nicht mehr ständig dem Schwert begegnet. Und deshalb wünsche ich mir, dass wir uns gelassen fragen, was wir von diesem Erbe annehmen können. Und ich füge hinzu: Potsdam war in der Zeit von Friedrich II. einige Jahre lang Hauptstadt der europäischen Aufklärung. Lassen Sie mich auch sagen, dass der Sozialdemokrat Otto Braun als preußischer Ministerpräsident in den 1920er Jahren das Musterbild eines Demokraten war. Er hat aus Preußen ein in Demokratie und Umgangsformen vorbildliches Land gemacht. Nicht ohne Grund ist Braun am 20. Juli 1932 Opfer des sogenannten "Preußenschlags" geworden.
Ein Leutnant und zwei Mann reichten aus, sagt man symbolisch, um die Regierung zu stürzen.
Auch Otto Braun sollten wir als Sozialdemokraten viel mehr würdigen. Ich freue mich sehr über die Aktivitäten der heutigen Brandenburger, die in Potsdam sein Andenken sichtbarer machen wollen.
In Potsdam groß geworden zu sein, heißt ja auch, in der Nähe des damaligen Westberlin aufgewachsen zu sein. Sie haben von den kulturellen Einflüssen bei sich zuhause gesprochen. Welches waren die kulturellen Einflüsse, die aus Westberlin kamen? Stichworte SFB, RIAS, "Schlager der Woche".
Zum einen waren sie sehr prägend und gut hörbar, weil sich der Sendeturm auf dem Schäferberg in Wannsee buchstäblich in Sichtweite befand. Wir mussten keine großen Antennenübungen machen. Wenn man den Fernseher einschaltete und den Daumen in die Antennenbuchse steckte, hatte man sogar ein 1-A-ZDF-Bild. Radiosender konnte man prima empfangen. Bei uns daheim war die "Tagesschau" die Nachrichtensendung, die "Berliner Abendschau" deren Regionalausgabe.
Dann haben Sie nicht die "Aktuelle Kamera" des DDR-Fernsehen verfolgt, die ja auch um 19.30 Uhr lief.
Genau. Das hätte mein Vater auch nicht zugelassen. (Lacht.) Das war sozusagen das umgekehrte Verbot. Wenn ich als Jugendlicher was im Ostfernsehen gucken wollte, musste ich sonst wohin gehen. Ich habe mir aber immerhin erstritten, "Sport aktuell" im DDR-Fernsehen zu Hause anschauen zu dürfen ... Es war, ist und bleibt in allem eine unglaubliche Geschichte. Ich habe praktisch 35 Jahre fast an der Mauer gewohnt und bin dann zum ersten Mal am 10. November 1989 rüber. Mit nochmaliger Verspätung, wenn man so will, denn die Glienicker Brücke zwischen Westberlin und Potsdam wurde ja als alliierter Grenzübergang erst einen Tag nach dem legendären 9. November geöffnet. Und ich musste dann feststellen dass ich so gar nichts über die räumlichen Verhältnisse auf der andren Seite der Mauer wusste. Ich musste mir meine unmittelbare Nachbarschaft neu erarbeiten. Das war trotz aller historischen Dimension schon ein putziges Gefühl.
Denken Sie heute noch in Ost-West-Dimensionen? Nach dem Motto "Ich aus dem Osten, die aus dem Westen?"
Ja und Nein. Wenn es um nicht erfolgte Gleichbehandlung geht, stehe ich weiterhin auf der Barrikade. Es darf beispielsweise nicht dabei bleiben, dass die bislang einzige ostdeutsche Ministerin in einer westdeutschen Landesregierung als endgültiger Gleichstellungserfolg gefeiert wird. Andersrum: Rein gefühlsmäßig bleibe ich aber ein Ostler. Finde ich auch nicht schlimm, weil ein Bayer, der sich in Emden oder Kiel herumtreibt, auch landsmannschaftliche Gefühle hegt. Oder nehmen Sie einen Hannoveraner, der in ein bayerisches Dorf kommt und erlebt, was dort so üblich ist. Der findet dann in Altötting auch so manches befremdlich. (Lacht.) Aber unterm Strich: Ich habe ja schon immer gesagt, ich gehöre hierher und bin eigentlich auch dankbar. Ich konnte mehrere Gesellschaftsordnungen erleben. Und dabei haben sich andere Grundgefühle eingestellt. Da kann ich unser früheres Fraktionsmitglied in der ersten und letzten freigewählten Volkskammer der DDR, Jochen Gauck, den heutigen Bundespräsidenten, gut verstehen: Den Freiheitsgewinn, den Zuwachs an Offenheit in der Gesellschaft und an persönlichen Möglichkeiten genießen wir mit unserer Biographie wahrscheinlich anders als jemand, der all das von Geburt an hatte. Nur ein anderes Beispiel: Meine Frau und ich waren letztes Jahr, also 2011, aus Anlass des Finales der Frauen-Champions-League, mit der Mannschaft von Turbine Potsdam in London. Ich hatte mich bis 1989 innerlich darauf eingerichtet, dass ich eine Reise dorthin erst mit 65 erleben kann und immer gedacht: Hoffentlich biste dann noch gesund genug. London war toll. Leider hat Turbine verloren, konnte den zuvor in Madrid errungenen, allerersten Champions-League-Titel im Fußball bei den Frauen nicht verteidigen. Ich litt mit meinem Freund Bernd Schröder, dem Turbine-Trainer. Aber, ich freute mich, da gewesen zu sein. Mann, war London für uns bis zur Wende ein Traum. Das kann ich so deutlich sagen und trotzdem an der nächsten Ecke wieder auf über die Jahre vertraute Produkte zurückgreifen.
Zu welchen?

Auf der Grünen Woche in Berlin trinkt Platzeck ein Glas Neuzeller Kartoffelbier.
(Foto: picture alliance / dpa)
Bei Tomatenketchup aus Werder und Hallorenkugeln fühle ich mich nach wie vor ganz gut aufgehoben. Kokosflocken und Rumkugeln müssen möglichst von Berggold sein. Das wollen auch die Kinder so. Und ein einheimisches Bier schmeckt mir noch immer besser als ein Kölsch. Da ist auch überhaupt nichts Schlimmes dabei. Wenn jemand im Rheinland, in Baden oder im Ruhrgebiet groß geworden ist, hat er Bindungen daran. Geschichte kann man nicht tauschen. Was Anderes ist das bei mir auch nicht. Ich bin nun 'mal mit den Puhdys und mit Karat groß geworden.
Hören Sie deren Musik heute noch?
Ich habe deren Musik im Auto, in der CD-Box. Bis heute mag ich Veronika Fischer sehr. Und andere.
Und jene, die aus dem Westen kamen? Beatles? Pink Floyd, Rolling Stones?
Na klar kann ich Beatles-Songs singen, habe ich die Stones in meiner Box, das ist Weltmusikgeschichte und ich mag die. Aber ein bisschen anders zuhause fühle ich mich eben bei den Puhdys. Man kennt sich inzwischen auch. Schließlich ist unsere Heimat 1989 nicht größer geworden. Ich habe 2009 auch sehr gern und mit innerer Überzeugung die Ausstellung "40 Jahre Puhdys" auf der Burg in Storkow eröffnet. Deren Musik gehört einfach zu meinem Leben und gefällt mir heute so wie damals. Als auf meiner Hochzeit "Alt wie ein Baum" gespielt wurde, hat man die Trennlinie gesehen: Hundert Gäste haben mitgesungen, hundert nicht, und da wusste man, wer woher kommt. (Lacht laut.)
Wenn die gute Fee jetzt durch das Fenster käme und sagen würde: "Matthias, Du hast einen Wunsch frei."
(Denkt nach.) Mein größter Wunsch hängt natürlich mit der Familie zusammen, dass alle gesund bleiben. Diese Hoffnung teile ich wahrscheinlich mit fast allen in Brandenburg. Aber weil ich nun mal zudem ein Arbeitsmensch bin mit 14, 15 oder 16 Stunden am Tag, sage ich auch: Am Ende meines beruflichen Lebens möchte ich die dann noch verbleibenden Jahre in einem Land verbringen, in dem Menschen gern leben, eine Zukunft sehen, eine Perspektive haben und keinen Grund, aus- oder abzuwandern. Ich möchte in meinem Brandenburg leben, das offen und frohgemut ist. Wenn das so ist, dann würde ich irgendwann zum lieben Gott sagen, kannst mich jetzt irgendwann zu dir nehmen. Dann wäre alles gut.
Mit Matthias Platzeck sprach Manfred Bleskin
Quelle: ntv.de