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Experte zu Hamas-Angriff "Kreml-Medien machen sich über Russen in Israel lustig"

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Viele in Israel lebende russische Juden unterstützten die Kreml-Politik. Ob sie immer noch hinter Putin stehen, ist nach den Hamas-Massakern fraglich.

Viele in Israel lebende russische Juden unterstützten die Kreml-Politik. Ob sie immer noch hinter Putin stehen, ist nach den Hamas-Massakern fraglich.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Nach dem Großangriff der Hamas auf Israel warten viele im Land lebende russische Juden vergeblich auf Hilfe und Solidarität des Kremls. Doch Präsident Putin vergleicht Israelis mit Nazis, Hamas-Terroristen werden in russischen Medien als Widerstandskämpfer dargestellt. Der Historiker Alexander Friedman sieht dahinter Kalkül. Was Moskau die Sympathien der Palästinenser nützen und wie Russland die Situation weiter ausnutzen könnte, darüber spricht der Osteuropa-Experte von der Uni Düsseldorf im ntv.de-Interview.

ntv.de: Als Hamas-Terroristen am 7. Oktober Israel überfielen, reagierte man im Westen mit Schock und Entsetzen. Wie wurden die Ereignisse in Russland aufgenommen?

Alexander Friedman: Die Berichterstattung in Russland ist ganz klar israelkritisch. Den Ton hat Putin selbst gesetzt: Nach dem Angriff fand er keine empathischen Worte. Von der Solidarität mit Israel war keine Rede. Für ihn sind es in erster Linie die Amerikaner, die für alle Missstände auf der Welt schuld sind - auch im Nahen Osten. Sie hätten ja die Verantwortung für den Nahen Osten übernommen und gar nichts erreicht. Im Gegenteil, sie hätten den Konflikt vielmehr befeuert.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Und was ist mit den Israelis? Warum werden sie kritisiert?

Wenige Tage nach dem Hamas-Überfall hatte Putin die Abriegelung des Gazastreifens durch Israel mit der Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg verglichen - ein Sinnbild der nationalsozialistischen Verbrechen in den besetzten sowjetischen Gebieten. Putin vergleicht hier also Israelis mit Nazis; tiefer kann man nicht mehr fallen. Und was man noch genüsslich ausgeschlachtet hat, ist das Versagen der israelischen Armee und Geheimdienste. Dass sie diese Verbrechen von Hamas nicht verhindern konnten.

Wie wird die Hamas dargestellt?

Es kommt zu einer gewissen Verharmlosung der Hamas. Das heißt, sie werden hauptsächlich als Befreiungskämpfer dargestellt. Die Hamas ist in Russland nicht als Terrororganisation eingestuft und der Kreml pflegt nach wie vor gute Beziehungen zu ihr und selbstverständlich zum Iran. Und da ja Russland mit diesen Parteien quasi verbündet ist, wundert es nicht, dass die Berichterstattung antiisraelisch ist.

Unter den Opfern und Geiseln der Hamas sind aber auch russische Staatsbürger.

Es gibt von der russischen Seite kein Interesse für die Menschen in Israel. Eine Evakuierung eigener Bürger war nie geplant. Für russische Geiseln interessiert sich in Russland niemand. Mehr noch, in russischen Medien macht man sich lustig über Russen, die nach dem Angriff auf die Ukraine nach Israel ausgewandert sind. Nach dem Motto: Ihr seid gegen die "Spezialoperation" gewesen? Nun habt ihr einen richtigen Krieg bekommen, und zwar in Israel. Diese verstörenden Narrative sind omnipräsent.

Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Darunter gibt es nicht wenige, die den Kreml unterstützen. Wie reagieren sie? Stehen sie immer noch hinter Putin?

Momentan lässt sich eine Tendenz beobachten, dass die ursprünglich kremlfreundlichen Menschen jetzt nach und nach beginnen, die Ereignisse neu zu sortieren. Die Enttäuschung über die russische Haltung ist riesig. Lange Zeit haben sie russische Narrative über die angeblich faschistische Ukraine übernommen. Erstaunlicherweise blendeten sie die Zusammenarbeit Russlands mit dem Iran und der Hamas einfach aus. Auch antisemitische Entgleisungen Putins gegen Selenskyj wurden ignoriert. Trotzdem war in dieser Gruppe eine Vorstellung von der angeblichen Judenfreundlichkeit Putins verbreitet. Und jetzt sehen sie diese antiisraelische Berichterstattung in russischen Medien und fragen sich: Wie kann das sein? Warum reagiert Russland so auf unsere Tragödie? Ich war selbst in der ersten Kriegswoche in Israel und habe diese Menschen gesehen, wie sie plötzlich angefangen haben, über Putin zu schimpfen: "Er war unser Präsident, wir haben ihn verehrt und jetzt hat er uns verraten". Dadurch hat der Kreml wirklich sehr viel Sympathie unter Menschen in Israel verloren. Ich denke aber, dass das Putin weitestgehend egal ist.

Warum?

Ich glaube, dass er von Israel sowieso schon enttäuscht ist, weil die israelische Führung seine Anti-Nazi-Narrative in Bezug auf die Ukraine nicht übernommen hat. Weil Israel aus seiner Sicht zu viel für die Ukraine macht. Viele Regimegegner haben Russland zudem in Richtung Israel verlassen - ich glaube, das hat seine Enttäuschung und seinen Antisemitismus möglicherweise verstärkt. Dazu kommt noch das Feindbild Selenskyj, das hat sicherlich auch sein Verhältnis zu jüdischen Menschen beeinflusst. Und last but not least - Israel ist ein wichtiger Verbündeter der USA, also des Erzfeindes.

Indem sich Putin Feinde in Israel macht, macht er sich gleichzeitig Freunde in arabischen Ländern?

Ich glaube, das ist genau seine Strategie. Er gewinnt sicherlich Sympathien bei Palästinensern. Die Hamas hat ihn ausdrücklich gelobt und sich bei ihm bedankt für sein "unermüdliches Bemühen", die "zionistische Aggression gegen das palästinensische Volk" zu beenden. Er stellt sich auf die palästinensische Seite, um die Sympathien in der arabischen Welt zu gewinnen und eventuell die muslimische Welt für den Kampf gegen den Westen zu nutzen. Ein Kalkül ist also da. Russland profitiert ja ohnehin von diesem Krieg. Allein schon dadurch, dass jetzt die ganze Welt von dem Krieg in der Ukraine abgelenkt ist. Ob unter aktuellen Umständen der Westen weiterhin entschlossen die Ukraine unterstützen wird, ist nicht mehr so sicher. Und außerdem wird Russland versuchen, die Situation weiter auszunutzen.

Inwiefern?

Wir haben eine entsetzliche Situation mit Gaza-Flüchtlingen, deren Schicksal unklar ist. Manche Experten sprechen schon seit einiger Zeit davon - und es ist zumindest theoretisch vorstellbar - dass Russland versuchen könnte, einen Transfer von Flüchtlingen zuerst nach Russland oder Belarus und von dort Richtung EU zu organisieren. Und die EU würde sie höchstwahrscheinlich nicht reinlassen. Dann würden wir entsetzliche Szenen an der EU-Außengrenze erleben. Und diese könnte die russische Propaganda wunderbar in der arabischen Welt verbreiten: Schaut mal, Europäer sind eure Feinde.

Die Europäer könnten sie aber auch aufnehmen.

Das würde aber die Spannungen innerhalb der Union verstärken. Das ist bisher nur ein theoretisches Szenario. Man sieht keine logistischen Vorbereitungen, außerdem ist es kaum vorstellbar, dass Ägypten bei so einer Aktion mitmachen würde. Putin und seinem Verbündeten Lukaschenko ist eine solch perfide Aktion jedoch sehr wohl zuzutrauen. Die von ihnen künstlich ausgelöste Migrationskrise an der belarussisch-polnischen Grenze ist nur ein Beispiel dafür.

Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou.

Quelle: ntv.de

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