Politik

NRW-Ausländerbehörde überfordert "Man kann nur immer beten, dass nichts passiert"

Gefälschte Zertifikate sind leicht über soziale Medien wie Tiktok zu erwerben, fand "RTL Extra" heraus.

Gefälschte Zertifikate sind leicht über soziale Medien wie Tiktok zu erwerben, fand "RTL Extra" heraus.

(Foto: RTL)

Recherchen von RTL und "Stern" zeigen: Bundesweit werden auf Grundlage von gefälschten, aber täuschend echt aussehenden Zertifikaten Aufenthaltstitel oder Niederlassungserlaubnisse erteilt - und sogar Personen zu Unrecht eingebürgert. Die Dunkelziffer laut verschiedener Landespolizeien: enorm hoch. Im Gespräch mit ntv.de spricht ein auf eigenen Wunsch anonym bleibender Mitarbeiter einer Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen von massiver Überforderung aufgrund der Masse der Anträge.

ntv.de: Wie muss ich mir den Arbeitsalltag in einer Ausländerbehörde aktuell vorstellen?

Mitarbeiter: Wir erleben eine enorme Überlastung. Man hat inzwischen wenig bis gar keine Zeit mehr, sich auf die Fälle vorzubereiten. Eigentlich ist das aber dringend erforderlich, um erst mal die richtigen Arbeitsschritte, teilweise auch mit Vorgesetzten, abzusprechen. An dieser Stelle fehlt aber oft das Fachwissen bei den Mitarbeitern. Seit 2015 sind uns ganz viele ältere Kollegen weggebrochen und deshalb wurden viele neue Leute eingestellt. Auch viele, die noch nicht mal eine Verwaltungsausbildung haben, also Quereinsteiger. Früher hat die Einarbeitungszeit ein bis zwei Jahre gedauert, um in der Behörde eigenständig zu agieren. Heute müssen neue Mitarbeiter schnell selbst die Verantwortung übernehmen. Sie bekommen Crashkurse und danach können sie sich viele Sachen erlesen. Aber dass ihnen das wirklich einer beibringt, das gibt es nicht mehr.

Können Sie das ganz konkret an einem Fall erklären? Also nehmen wir an, da kommt jemand, der seine Aufenthaltserlaubnis verlängern möchte.

Die Ausländerbehörde ist nicht nur eine Erteilungsbehörde, die Ausländerbehörde ist auch eine Ordnungsbehörde. Da muss man Sachverhalte prüfen: Sind diese B1- und "Leben in Deutschland"-Zertifikate echt oder nicht? Die Prüfung fängt aber nicht erst bei den Zertifikaten an, sondern schon bei den Pässen. Einige neue Mitarbeiter wissen noch nicht mal mehr, welche Sicherheitsmerkmale überhaupt der allgemeine Reisepass hat, egal aus welchem Land. Das heißt, sie wissen beispielsweise nicht mal, was die maschinenlesbare Zone ist und welche Sicherheitsmerkmale man zu prüfen hat. Und durch den hohen Arbeitsdruck ist natürlich auch nicht an jedem Arbeitsplatz ein Pass-Lesegerät da. Die Mitarbeiter müssten dann dorthinlaufen, wo eines steht. Das machen sie aber oft nicht. Oft werden diese Prüfungen dann auch unterlassen und die Pässe werden einfach auch dann schon mal so durchgewunken.

Wie müsste es stattdessen sein?

Normalerweise ist der Vorgang so, dass ich erst mal prüfe: Ist die Person überhaupt legal hier in Deutschland eingereist? Hat die Person hier den richtigen Pass? Ist die Person, die vor mir steht, auch die Person auf dem Lichtbild? Das alles wird häufig nicht mehr so richtig geprüft, weil viele Leute dafür auch gar nicht geschult sind. Es wird nur noch geguckt: "Was kann ich erteilen und wie kann ich was erteilen? Weil, wenn ich eine Versagung, also Ablehnung, habe oder noch irgendwas prüfen muss, dafür haben die meisten Kollegen bei der Ausländerbehörde gar keine Zeit mehr. Auf diese Weise werden dann nach irgendwelchen Rechtsgrundlagen Aufenthaltstitel erteilt, die so gar nicht richtig sind.

Was macht das mit Ihnen, wenn Sie das so mitbekommen? Und ist den Kollegen bewusst, dass sie so handeln? Oder tun die das nach bestem Wissen und Gewissen, weil sie es auch nicht besser gelernt haben?

Bei vielen alten, erfahrenen Kollegen ist die Frustrationsgrenze natürlich recht hoch. Und deswegen haben auch schon viele aufgehört und den Job gewechselt. Die neuen Kollegen wissen es teilweise nicht besser. Teilweise ist es aber auch vielen - das muss man so ehrlich sagen - mittlerweile egal. Man will einfach die Berge an Arbeit vom Tisch haben, da gibt es gar nicht mehr den Anspruch, alles ordentlich zu prüfen. Ich habe zum Beispiel eine junge Arbeitskollegin, sie kommt direkt von der Schule. Sie ist den Umgang mit Kunden gar nicht gewöhnt. Schon gar nicht mit Kunden, die eventuell die Sprache nicht richtig verstehen oder bei einer Ablehnung aggressiv reagieren könnten. Diese junge Kollegin ist einfach froh, wenn die Kunden wieder draußen sind. Sie ist auch gar nicht geschult in Dokumentenprüfung, in gar keinen Prüfungen, in nichts! Und da ist sie bei weitem nicht die Einzige: In der Ausländerbehörde, in der ich arbeite, würde ich einschätzen, wissen von den 160 Mitarbeitern nur noch 8 bis 10 Mitarbeiter überhaupt noch, was sie tun.

Wie viel Zeit haben Sie pro Bearbeitung einer Person?

Normalweise haben wir so in etwa eine halbe Stunde pro Kunde für die Bearbeitung. Viele Ausländerbehörden haben diese Taktung noch offiziell, aber es kommt zusätzlich viel "Laufkundschaft" dazu, beispielsweise in der Urlaubszeit, wo Menschen reisen möchten. Oder wenn jemand noch eine Verlängerung vom Aufenthaltstitel benötigt, da müsste man natürlich eigentlich noch mal prüfen: Ist die Person überhaupt berechtigt, diesen Aufenthaltstitel zu bekommen? Und das passiert eben nicht mehr so, wie es mal war. Das hat ungefähr vor zehn Jahren aufgehört. Und das Problem ist: Wenn ein Aufenthaltstitel einmal erteilt wird, dann kann er auch nicht einfach zurückgenommen werden.

Und hier hat sich nun ein Markt für Kriminelle eröffnet, die beispielsweise B1-und "Leben in Deutschland"-Zertifikate fälschen?

Es wird im Moment den Betrügern sehr einfach gemacht, weil die Ausländerbehörden durch das hohe Arbeitsaufkommen nicht immer prüfen. Wenn man es einmal mit Hilfe eines gefälschten Zertifikats in unser System geschafft hat und auf dieser Grundlage dann ein Aufenthaltstitel erteilt wird, dann ist das sehr viel wert für den Ausländer, weil er wird im Anschluss nie wieder danach gefragt.

Inwiefern hat das Chancen-Aufenthaltsrecht zur Verschärfung der Arbeitsbelastung in den Ausländerbehörden beigetragen?

Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist geschaffen worden, um Personen, die langzeitgeduldet sind, aus der Duldung herauszubringen und dann vielleicht hier in Arbeit zu bringen. Geduldete sind aber eigentlich ausreisepflichtige Ausländer. Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel. Innerhalb der Behörde wurde dann erstmal großen Wert darauf gelegt, dass überall viel Chancen- Aufenthaltsrechte erteilt werden. Teilweise wurde dann auch weniger geprüft, weil die Prüfverfahren in dem Sinne lang sind, weil man natürlich auch erst mal bei den Sicherheitsbehörden abfragen muss, ob irgendwelche Strafverfahren vorliegen und ob die Personen auch die Voraussetzungen haben, dass sie jemals hier in Arbeit kommen. Vielfach ist das aber nicht der Fall - wenn man daher zu genau hinschaut, könnte man in vielen Fällen daher auch das Chancen-Aufenthaltsrecht nicht erteilen. Das ist politisch aber nicht gewünscht.

Die Digitalisierung sollte ja eigentlich Arbeitserleichterung bringen…

Seit der Digitalisierung sprechen die Ausländerbehördenmitarbeiter teilweise ja gar nicht mehr mit dem Publikum. Und wenn ich den Ausländer selbst nicht mehr sehe, weil das alles vorher digital eingereicht wird, dann sind mir natürlich die Hände gebunden. Ich muss dem Ganzen dann einfach Glauben schenken. Und eines muss man ja auch ganz offen sagen: Wer oft prüft, bekommt auch oft Beschwerden, nämlich dann, wenn man eine Ablehnung verschickt. Dann gibt es jede Menge Sozialverbände und Nichtregierungsorganisationen, die teilweise Ausländer begleiten und die darauf bedacht sind, das Einzelschicksal für sich selber zu beurteilen und zu sagen "Der muss einen Aufenthaltstitel haben". Vor diesem Gegenwind schrecken auch einige Mitarbeiter zurück.

Kann man die Zertifikate denn irgendwie auf ihre Echtheit hin überprüfen?

Natürlich. Dafür braucht man aber Zeit - und man muss erstmal die Ahnung haben, was falsch ist und was echt. Viele Mitarbeiter kennen aber die Details nicht. Diese Dokumente haben unter anderem Wasserzeichen. Nun muss ich erstmal beurteilen können: Was ist überhaupt ein echtes Wasserzeichen und was ist ein falsches Wasserzeichen? Bei einem digitalisierten Dokument erkennt man das zudem gar nicht mehr. Da müsste nun derjenige, der innerhalb der Behörde die Digitalisierung macht, besonders geschult sein. Oft erreichen uns die Dokumente auch als Scan, als Foto oder PDF, was die Leute selbst erstellt haben. Da kann man dann anhand von Prüfmerkmalen oftmals gar nichts mehr prüfen. Ein unerfahrener Ausländerbehördenmitarbeiter hat keine Chance, herauszufinden, ob ein Dokument echt ist oder gefälscht. Das Zertifikat "Leben in Deutschland" kann man zwar theoretisch beim Bundesamt für Migration abfragen, das Sprachzertifikat wiederum bei den Sprachschulen oder auch digital über die Seite von TELC. Das kostet aber Zeit und Zeit ist bei der Masse an offenen Verfahren, die bei den Ausländerbehörden liegen, eine knappe Ressource.

Die ganzen Quereinsteiger, die noch nie bei einer Behörde irgendwas geprüft haben, haben sich ja noch nie mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Und die kommen ja auch gar nicht darauf, dass vielleicht eine falsche Person mit einem echten Zertifikat vor mir steht oder eine echte Person mit einem falschen Zertifikat. Gerade die uneingearbeiteten Personen sind unsicher. Sie wollen eigentlich nur, dass sie die Papierlage schnell vom Tisch bekommen und der Ausländer das Büro wieder verlassen kann.

Was würden Sie sagen? Wie hat sich diese "gefälschte Zertifikate Industrie" in den letzten zwei Jahren verändert?

Die letzten zwei Jahre hat sich wahnsinnig viel verändert: Der Druck ist jetzt da, es wollen viele Menschen eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht. Die Wartezeit für einen Aufenthaltstitel wurde dadurch sehr verkürzt und das sorgt bei uns für eine immense Arbeitsbelastung. Der erste Schritt ist ja, dass die Ausländer nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht erstmal einen normalen befristeten Aufenthaltstitel bekommen. Die Niederlassungserlaubnis ist danach der nächste Schritt. Dafür muss man sich mehrere Jahre hier aufhalten, muss 60 Rentenmonate einbezahlt haben et cetera. Aber ich habe ja schon gewonnen, wenn ich einen befristeten Aufenthaltstitel bekomme, wird eigentlich niemand mehr dran rumrütteln.

Was muss man dafür vorweisen?

Man muss unter anderem einen Sprachtest vorlegen und man muss das Zertifikat für "Leben in Deutschland" vorlegen, man muss der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zustimmen und man darf keine Straftaten haben. Die Straftaten können die Ausländerbehördenmitarbeiter über die Sicherheitsbehörden abfragen. Das ist nicht das Problem. Das Problem sind die Sprachtests, weil viele Migranten das sehr vernachlässigt haben.

Stichwort Personalknappheit

Wir haben heute bei Ausländerbehörden nicht mal mehr das Personal, um wirklich das Vier-Augen-Prinzip durchzuführen.

Was heißt das?

Früher hatten wir ein Kontrollsystem: Der eine Mitarbeiter erteilt eine Aufenthaltserlaubnis und der andere Mitarbeiter guckt nochmal drüber. Aufgrund der Masse der Fälle und der wenigen Mitarbeiter und auch der hohen Krankenquoten in den Behörden, wo man nicht mal weiß, wer den nächsten Tag noch zur Arbeit kommt und wer nicht, weil natürlich die Belastung einfach sehr hoch ist, ist natürlich ein Vier-Augen-Prinzip bei Ausländerbehörden überhaupt nicht mehr möglich.

Unsere Recherchen zeigen, dass es mehrfach mithilfe von gefälschten Zertifikaten zu vollzogenen Einbürgerungen gekommen ist.

Bei den Einbürgerungen wird momentan großer Druck auf uns ausgeübt, besonders viele Leute einzubürgern. Dafür brauchte man Personal. Dieses Personal wurde oft nicht richtig eingearbeitet. Diese Mitarbeiter wissen nicht, was Fälschungsmerkmale sind. Das heißt, sie können überhaupt nicht erkennen, was ein falsches und was ein echtes Dokument ist. Und genauso ist es bei Pässen. Und das ist nicht nur bei den Einbürgerungsbehörden so, sondern das ist auch bei den Ausländerbehörden so. Die Ausländerbehörden haben so viele neue Mitarbeiter bekommen und es geht immer nur um erteilen, erteilen, erteilen. In der Öffentlichkeit kann ein Behördenleiter dann gut dastehen, wenn er viele Einbürgerungen vorweisen kann.

Würden Sie sagen, Deutschland hat noch die Kontrolle über die Vergabe von Aufenthaltstiteln?

Viele Behörden haben die Kontrolle eigentlich verloren, weil es wird eigentlich gar nicht richtig geprüft. Das heißt, es wird insgesamt zu wenig geprüft und da hat Deutschland überhaupt alles verloren. Man schlägt nur jedes Mal die Hände über dem Kopf zusammen, wenn irgendwo was passiert, beispielsweise in Solingen. Dann fragt man sich: Wie konnte das passieren?

Was für ein Sicherheitsrisiko bedeuten denn diese wahnsinnige Überlastung, die Sie jetzt beschreiben, für Deutschland?

Das Sicherheitsrisiko ist aus meiner Sicht nicht mehr überschaubar. Eigentlich kann man immer nur beten, dass nichts passiert. Aber das gesamte System ist ja vollkommen überlastet: Unser Krankensystem ist wahnsinnig belastet durch falsche Identitäten. An dieser Stelle glaube ich, hat die Bundesrepublik Deutschland in vielen Teilen schon die Oberhand verloren.

Wo haben Sie das Gefühl, findet am meisten Betrug aktuell statt?

Meiner Einschätzung nach und auf Grundlage meiner Erfahrungen im Arbeitsalltag sind es vorwiegend Syrer, Afghanen und Iraker. Sie alle wollen die Niederlassungserlaubnis, weil dadurch ihnen die Möglichkeit gegeben wird, einfacher Familienangehörige nachziehen zu lassen.

Was wäre aus Ihrer Sicht ein Mittel, um diese Zustände zu stoppen?

Die Mitarbeiter müssen umfassend geschult werden. Sie müssen über einen langen Zeitraum begleitet werden bei der Einarbeitung. Sie müssen in Dokumenten, Schulungen, in Recht und Ordnung im Umgang mit Menschen auch teilweise erst geschult werden. Weil, wenn jemand reinkommt, der direkt losschreit, das ist für jeden eine Konfliktsituation, die nicht einfach ist. Und das muss man lernen. Man muss lernen, wie man damit umgeht. Und wenn die Angaben nicht stimmen? Dann gibt es bei uns Gesetze, die man auslegen kann.

Was schätzen Sie: Wie viel Aufenthaltstitel werden zu Unrecht vergeben?

Ich schätze mindestens 30 Prozent. Und zu Unrecht bedeutet für mich auch, dass man einfach zu lasch geprüft hat. Die Person mag vielleicht arbeiten, befindet sich aber noch in der Probezeit. Nur so als Beispiel.

Was ist aus Ihrer Sicht die Prognose für Deutschland? Wenn es so weitergeht?

Unsere Sozialsysteme werden zusammenbrechen. Das ist einfach klar. Das ist nicht mehr leistbar. Die Schulen schaffen es nicht mehr. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es für unsere Behörde noch zu retten ist. Man müsste ganz von vorne anfangen. Aber auch das Personal fehlt: Man findet für eine Ausländerbehörde kaum gutes Personal mehr. Dieses Problem haben aus meiner Sicht alle Ausländerbehörden in Deutschland.

Mit dem Behördenmitarbeiter sprach Liv von Boetticher

Quelle: ntv.de

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