Schwere Kämpfe in Ostukraine Partisanen operieren im Rücken der Russen
14.09.2022, 18:24 Uhr
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte Soldaten in der befreiten Stadt Isjum.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Im Osten der Ukraine müssen die Russen in Windeseile eine neue Verteidigungslinie aufbauen. Ukrainische Partisanen versuchen das zu verhindern. Im Rücken der russischen Truppen halten sie die nachrückenden Kräfte auf.
Während im Osten der Ukraine große Areale zurück an die Ukraine fallen, sind die Geländegewinne an der südlichen Frontlinie weit weniger spektakulär. Das liegt vor allem auch daran, dass im Süden das Kräfteverhältnis zwischen beiden Armeen für die Ukraine deutlich schlechter ist. Entsprechend geht der ukrainische Vormarsch rund um die Stadt Cherson relativ langsam voran, doch hat die Ukraine dort einen entscheidenden Vorteil: Sie hat die Nachschublinien im Rücken der russischen Truppen bereits stark unter Kontrolle oder sogar ganz abgeschnitten.
Die Ukrainer nutzen dort den Fluss Dnjepr, der das Gebiet südlich von Cherson durchzieht. Diesen breiten Fluss muss das russische Militär überqueren, wenn es aus dem Süden Nachschub bringt, doch sind durch den starken ukrainischen Beschuss, der schon vor der Offensive begonnen hatte, die Brücken über den Dnjepr kaum noch tragfähig. Eine Reparatur wäre aufwändig und langwierig.
Panzer schaffen es nicht über den Fluss
Entsprechend sind die russischen Truppen vielfach auf Boote und Hubschrauber angewiesen, um die Soldaten mit Munition zu versorgen. Leichte gepanzerte Fahrzeuge sollen laut Berichten vom Dienstag über eine Brücke in Nova Karkhova gefahren sein, eine Stadt weiter östlich am Flussufer. Über Fahrten schwerer Fahrzeuge - Panzer und Artillerie - gibt es keine Berichte.
Der Dnjepr ist in dieser Region mehrere Kilometer breit. Die Möglichkeit, die die Russen bei einem normal breiten Fluss hätten, mithilfe von Pontonbrücken Behelfsübergänge zu schaffen, gibt es dort nicht. Gleichzeitig kommen auch amphibische Fahrzeuge in Schwierigkeiten. Viele russische Kampffahrzeuge können zwar schwimmen, nach Aussage des Militärexperten Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations jedoch nicht gut und auch nicht schnell. Einmal im Fluss besteht die Gefahr, dass sich die Fahrzeuge im Wasser weit verstreuen.
So wird der Dnjepr für die russische Armee gleich in zweifacher Hinsicht zum Problem: zum einen beim Nachschub, der für die Truppen, die nördlich des Flusses liegen, schwer zu beschaffen ist. Vor allem in der Stadt Cherson hat man sich bereits auf Stellungen zurückgezogen, die nah am Ufer liegen und so auch vom Südufer, also von jenseits des Flusses, Feuerunterstützung bekommen könnten. Aus Gressels Sicht spricht das dafür, "dass die Munition der Truppen dort langsam knapp wird".
Das ist für die Russen besonders fatal, denn weil sie dort den ukrainischen Angriff erwartet hatten, stehen dort nun Truppen in der Stärke von 20.000 Mann. "Sie haben dort ihre operativen Reserven hineingeschleust, auch viele Fallschirmjäger, also sehr viele gute Kampfeinheiten", sagt Gressel.
Die Panzer kommen auch nicht mehr zurück
Ein zweites Problem, das durch die instabilen Brücken entstanden ist: Selbst wenn die Russen entscheiden, dass ihr Brückenkopf in Cherson wegen der schwierigen Logistik nicht zu halten ist und ihn ganz aufgeben, könnten sie ihr schweres Gerät von dort nicht evakuieren. Sie müssten also große Verluste an Material in Kauf nehmen.
All das spielt den Ukrainern unmittelbar in die Hände. Sie rücken aufgrund ihrer Unterzahl zwar langsam vor, machen - im Vergleich zu den harten Schlachten in der Region Charkiw - dabei aber auch nur geringe Verluste und können auf Zeit spielen. Denn die wird den Russen knapp, wenn sie ihre Truppen nicht mehr versorgen können und der Munitionsvorrat kollabiert.
Ganz anders ist die Situation im Raum Charkiw. Dort, im Osten des Landes, hat die ukrainische Armee das Momentum auf ihrer Seite. Sie hat den Eisenbahnknotenpunkt Kupjansk zurückerobert, den die Russen zur Versorgung ihrer Truppen nutzten. Auch die befreite Stadt Isjum war für die Kreml-Truppen wichtig, von dort aus hatte man weitere Angriffe auf die noch nicht besetzten Regionen im Donbass geplant.
So hat die Ukraine den russischen Angreifern nicht nur viel Gelände, sondern auch wichtige logistische Zentren abnehmen können. Nun gilt es für sie, ihre Gewinne zu konsolidieren und die Voraussetzungen für einen weiteren Angriff zu schaffen.
Auch im Osten spielen Flüsse im derzeitigen Kampfgeschehen eine wichtige Rolle. Von Übergängen über den vergleichsweise kleinen Siwerskyj Donez in der Region Lyssytschansk und vor allem um die Stadt Lyman herum werden schwere Kämpfe gemeldet. "Da versucht die Ukraine von Süden her, Brückenköpfe über den Fluss auszubauen", so Gressel.
Partisanen fallen den Russen in den Rücken
Am Fluss Oskil ist die Lage aus seiner Sicht unklarer. Derzeit verläuft die Frontlinie direkt entlang des Flusses. Die ukrainischen Truppen stehen am Westufer und versuchen dort, sich neu zu gruppieren, die Kampffahrzeuge zu betanken und den weiteren Vorstoß vorzubereiten. Parallel bemühen sich die Russen, am Ostufer des Flusses eine starke Verteidigungslinie aufzubauen.
Allerdings gibt es Berichte, nach denen ukrainische Truppen den Fluss bereits überquert und das Ostufer erreicht haben. Demnach soll dort zumindest schon ein ausgebauter Brückenkopf bestehen. Doch solche Meldungen sieht Gressel derzeit noch nicht bestätigt. Schwer einschätzbar ist die Lage in der Region auch, weil im Rücken der russischen Front, also weiter Richtung Osten, viele Partisanen im Einsatz sind.
"Daher gibt es immer wieder starke Gefechte und Orte im Osten des Oskil, in denen die ukrainische Flagge hoch geht. Aber noch ist schwer zu beurteilen, ob das bereits ukrainische Truppen sind, ob sich dort also eine zusammenhängende Front verschiebt, oder ob es sich um Partisanengruppen handelt", sagt Militärexperte Gressel. Von Seiten der Ukraine gebe es wenig Informationen, "auch wenn die sicher genau wissen, was dort vor sich geht". Er selbst sehe "die Dichte der Erfolge noch nicht, aufgrund der man sagen könnte, sie haben die Gebiete unter Kontrolle".
Was feststeht: Die ukrainischen Partisanen und Spezialkräfte versuchen, im Rücken der feindlichen Truppen zu operieren, indem sie die neuen russischen Kräfte, die dort jetzt zur Verteidigung der Frontlinie einfließen, in Hinterhalte locken, sie verwirren und aufhalten. Ziel ist es, den Aufbau der russischen Verteidigungslinie zu stören, ihn nach Möglichkeit zu verzögern.
Quelle: ntv.de