Mobilmachen, Eskalieren, Rückzug Welche Optionen hat Putin jetzt noch?


Russlands Präsident Wladimir Putin ist jetzt am Zug.
(Foto: AP)
Russlands Armee wird von der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive völlig überrumpelt - und Putin muss gegensteuern. Doch seine Möglichkeiten sind begrenzt. Eine Mobilmachung ist politisch heikel, ein Rückzug quasi ausgeschlossen. Damit steigt die Gefahr einer Eskalation.
Als seine Truppen am Wochenende in Charkiw vor der ukrainischen Armee flohen, weihte Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau ein Riesenrad ein. Von Beginn an war es dem Kreml-Chef wichtig, die Invasion in der Ukraine nicht ins eigene Land zu lassen - nicht einmal sprachlich. Doch seine "militärische Spezialoperation" verläuft nicht mehr unsichtbar: Plötzlich sehen russische Urlauber auf der Krim Bomben fallen, Sanktionen treffen die Moskauer Oberschicht beim Shopping und im Staats-TV fällt das Wort "Krieg" nun doch. Die Misserfolge in der Ukraine bringen Präsident Putin zunehmend in Bedrängnis.
Auch wenn der Kreml immer wieder betont, dass die sogenannte Spezialoperation nach Plan laufe, muss inzwischen auch Putin eingestehen, dass die Realität anders aussieht. Vor diesem Moment hat Tatiana Stanovaya, Russland-Expertin an der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden in Washington D.C., bereits vor Wochen gewarnt. "Wenn Putin erkennt, dass seine Pläne scheitern und seine Enttäuschung darüber am größten ist, wird er wahrscheinlich am gefährlichsten sein", schrieb sie in der "New York Times". Zwei seiner Ziele, die Kapitulation Kiews und die Unterwerfung der Ukraine, seien unerreichbar.
Einzig die Eroberung des Donbass habe noch eine Chance auf Erfolg. "Putin glaubt, dass die Zeit bei diesem Ziel, das für den Kreml von minimaler geopolitischer Bedeutung ist, auf seiner Seite steht." Doch Meldungen, die russische Armee habe erste Orte in der Region Luhansk verlassen, beweisen das Gegenteil. Putin steht unter Handlungszwang. Doch die meisten Optionen des russischen Präsidenten haben einen Haken:
Generalmobilmachung
Offiziell gibt es keine Zahlen zu gefallenen russischen Soldaten. Die Ukraine spricht von mehr als 50.000 toten Russen seit Beginn der Invasion, das britische Verteidigungsministerium hält die Hälfte für wahrscheinlicher. Aber je mehr Informationen über die desolate Lage der russischen Armee nach außen dringen, desto schwieriger wird die Rekrutierung weiterer Soldaten. Schon jetzt kommt ein Großteil der Kämpfer aus entlegenen Regionen Russlands - Kaukasus, Sibirien, Ural. Russische Nationalisten und Kriegsbefürworter rufen deshalb nach einer Generalmobilmachung. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow will solche Forderungen und Kritik am Vorgehen der Regierung als Beispiel der "Pluralität" in Russland verkaufen.
Doch für Putin birgt die Generalmobilmachung gleich mehrere andere Probleme. Zum einen widerspricht eine Mobilmachung der bisherigen Linie des Kreml, wonach es sich beim Einmarsch in die Ukraine lediglich um eine begrenzte "militärische Spezialoperation" handelt. Putin müsste den Krieg als das benennen, was er ist - und damit riskieren, dass sich der Wind innerhalb der Bevölkerung dreht. Dem Meinungsforschungszentrum "Lewada" zufolge befürworten nur noch 48 Prozent der Russen den Krieg in der Ukraine. Spätestens dann, wenn auch "die Jugend der wohlhabenden und mit dem Staat verbandelten Eltern aus Moskau und St. Petersburg" auf den Schlachtfeldern sterben soll, droht Putin Gegenwehr.
Formelle Kriegserklärung
Schon im Mai spekulierte der Westen, wann Russlands Präsident der Ukraine auch formell den Krieg erklären könnte. Für Putin hätte das einige Vorteile. Das Kriegsrecht erlaubt ihm nicht nur die Mobilmachung von Reservisten, sondern auch die Industrie auf die Produktion von Rüstungsgütern umzustellen und den Ausnahmezustand zu verhängen. Doch bisher scheute Putin diesen Schritt, auch weil er eine gute Begründung dafür bräuchte.
Das Narrativ, man müsse die Ukrainer von einem Nazi-Regime befreien, rechtfertigt in den Augen vieler Russinnen und Russen vielleicht eine "militärische Spezialoperation", aber keinen langwierigen Krieg vor der eigenen Haustür. Zudem halten Experten das Land für zu schlecht vorbereitet auf solch ein Szenario. Weder würden Reservisten kurzfristig zur Verfügung stehen, noch verfüge das Militär im Moment über die nötige Ausstattung, um sie alle kampfbereit zu machen. Dafür bräuchte es Monate.
Neue Offensive
Die ukrainische Armee hat es geschafft, die Russen zurückzudrängen - doch das heißt nicht automatisch, dass der Krieg damit entschieden ist. Militäranalysten glauben, dass Putin nun vor allem die Zersetzungserscheinungen innerhalb der Truppe stoppen, die Streitkräfte sammeln, stärken und konsolidieren muss. In einer Verteidigungsposition gelingt das traditionell besser. Allerdings hat das russische Militärkommando offenbar Mühe, die Verteidigungslinien mit frischen Einheiten zu verstärken.
Nicht nur die Rekrutierung neuer Soldaten ist demnach schwierig. Weil sich zudem eine große Anzahl Freiwilliger weigere, in den Krieg zu ziehen, habe die Führung die Entsendung weiterer Truppen zunächst ausgesetzt, meldet das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) unter Berufung auf den ukrainischen Generalstab. Wenn es so ist, hätte das nicht nur Auswirkungen auf die Moral der verbliebenen Kampfeinheiten, sondern gäbe der ukrainischen Armee auch Zeit, sich umzugruppieren und ihre Offensive fortzuführen.
Totale Eskalation
Nicht nur von ukrainischer Seite kommen immer wieder Warnungen, der Kreml könnte mit chemischen und taktischen Atomwaffen versuchen, den Konflikt weiter zu eskalieren. Auch einige Militärexperten in Deutschland sprechen von der russischen "Eskalationsdominanz" - und fordern die Ukraine vor diesem Hintergrund auf, eine Verhandlungslösung auch dann zu akzeptieren, wenn sie die Aufgabe eigener Gebiete vorsieht. Allerdings hätte eine nukleare Eskalation für Putin einen hohen Preis.
Für die NATO hieße das zwar nicht, dass automatisch der Bündnisfall eintritt. Doch es ist wenig wahrscheinlich, dass das Verteidigungsbündnis Putin einfach gewähren ließe. Nicht zuletzt hätte eine nukleare Eskalation womöglich auch Auswirkungen auf NATO-Mitglieder. Zudem wäre Russland endgültig international isoliert, nicht nur politisch sondern auch wirtschaftlich. In einer Situation, in der Putin mehr denn je auf Wirtschaftspartnerschaften - etwa mit Indien oder China - angewiesen ist, wäre der Preis der Ächtung zu hoch.
Wahrscheinlicher ist, dass Putin stärker auf die gezielte Zerstörung der zivilen Infrastruktur setzt, indem er - ähnlich wie schon in Syrien - flächendeckende Luftangriffe auf ukrainische Städte fliegen lässt. In der Großstadt Charkiw war das bereits zu beobachten: Dort fiel nach mehrmaligen Bombardements unter anderem auf ein Wärmekraftwerk der Strom aus. Auch fließend Wasser und Internet gab es zwischenzeitlich nicht. Putin könnte auf diese Weise versuchen, die Bevölkerung zu demoralisieren.
Vollständiger Rückzug
Auch wenn die Nachricht, das russische Militärkommando werde zunächst keine neuen Truppen an die Front schicken, entsprechende Hoffnungen weckt: Für einen geplanten Rückzug Russlands aus der Ukraine gibt es derzeit keinerlei Hinweise. Im Gegenteil: Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betonte am Montag vor Journalisten, die "militärische Spezialoperation" werde fortgesetzt, "bis die anfangs gesetzten Ziele erreicht sind" - also mindestens die vollständige Eroberung der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk.
Für Putin käme ein Rückzug aus der Ukraine einem politischen Selbstmord gleich, es sei denn, er könnte die Verantwortung für den Misserfolg von sich selbst auf andere übertragen - etwa auf die militärische Führung. Schon jetzt steht Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu für die schlechte Vorbereitung der "Spezialoperation" in der Kritik. Stimmen aus dem ultrarechten Lager fordern seinen Rücktritt. Ob das für Putin reichen würde, um sich "reinzuwaschen", ist fraglich.
Friedensverhandlungen
Seit Monaten liegen die Verhandlungen auf Eis. Nun zeigte sich Russlands Außenminister Sergej Lawrow plötzlich wieder zu Gesprächen mit der Ukraine bereit. Doch wie groß der Wille in Kiew ist, sich die Forderungen der Invasoren anzuhören, ist fraglich. Die erfolgreiche Gegenoffensive pusht das ukrainische Selbstbewusstsein. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zuletzt verkündet, auch die seit 2014 von prorussischen Separatisten besetzten Gebiete - und die annektierte Krim-Halbinsel - zurückerobern zu wollen. Russland fordert hingegen Luhansk und Donezk. Ein Nachgeben ist von beiden Seiten derzeit kaum vorstellbar.
Selenskyj weiß: In der aktuellen Lage ukrainisches Staatsgebiet an Russland abzutreten, käme in der durch russische Kriegsverbrechen geplagten ukrainischen Bevölkerung nicht gut an. Viele sehen inzwischen den Wendepunkt in dem Konflikt gekommen. Die militärischen Erfolge im Süden und Osten ermutigen nicht nur die Ukrainer zum Durchhalten, sondern bestätigen auch den Kurs der USA - dem mit Abstand größten militärischen Unterstützer der Regierung in Kiew. Und auch in Europa mehren sich die Stimmen, die gerade jetzt mehr Hilfe für die Ukraine fordern, etwa in Form von Kampfpanzern.
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 13. September 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de